Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
kurs bey dem Johnson, den Hr. Wieland anführt,
Himmel und Paradies zu seyn scheinen: so weiß der
Mensch oft selbst nicht, was er will und wünscht; und
dennoch würden noch immer zehn übrig bleiben, die ei-
nen solchen Zustand auf immer unausstehlich finden
würden. Gegen die sogenannten Dokumente aus der
Geschichte des Herzens läßt sich manches erinnern. Dem
erschlafften Einwohner heißer Länder gefällt ein Paradies,
das nichts als Sinnenwollust enthält, in aller Absicht.
Der Asiater von höherer Einbildungskraft setzet noch
Beschäfftigungen für die Phantasie hinzu. Der Grie-
che dichtete, dachte und raisonnirte in seinem Elysium.
Der kriegerische Nordländer gieng im Vallhall auf die
Jagd, und setzte den hiesigen Krieg mit Menschen dor-
ten mit den Thieren fort. Der Himmel ist nicht bey
allen Völkern derselbige, nur Schmerz und Kummer,
und Mißvergnügen aus Widerstand und Einschrän-
kung, sind überall daraus verbannet; nicht so die ge-
mischten Empfindungen, nicht die Freudenthränen, nicht
einmal das Mitleid.

Die Beobachtung des Horaz *) über das allgemei-
ne Bestreben der Menschen nach Ruhe und Muße
ist nicht unrichtig. Aber diese Muße ist nicht Unthätig-
keit, nicht gänzliche Ruhe, sondern der leichte, ungehin-
derte, schmerzenlose Gebrauch der Kräfte. Die Men-
schen wollen leben und des Lebens genießen; sich beschäf-

tigen
*) Otium diuos rogat in patenti
Prensus Aegaeo, -- -- --
Otium bello furiosa Thrace,
Otium Medi pharetra decori. ad Grosphum.

Ille, grauem duro terram qui vertit aratro,
Perfidus hic caupo, nautaeque, per omne
Audaces mare qui currunt: hac mente laborem
Sese ferre, senes ut in otia tuta recedant,
Aiunt. -- -- Serm. lib. I.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
kurs bey dem Johnſon, den Hr. Wieland anfuͤhrt,
Himmel und Paradies zu ſeyn ſcheinen: ſo weiß der
Menſch oft ſelbſt nicht, was er will und wuͤnſcht; und
dennoch wuͤrden noch immer zehn uͤbrig bleiben, die ei-
nen ſolchen Zuſtand auf immer unausſtehlich finden
wuͤrden. Gegen die ſogenannten Dokumente aus der
Geſchichte des Herzens laͤßt ſich manches erinnern. Dem
erſchlafften Einwohner heißer Laͤnder gefaͤllt ein Paradies,
das nichts als Sinnenwolluſt enthaͤlt, in aller Abſicht.
Der Aſiater von hoͤherer Einbildungskraft ſetzet noch
Beſchaͤfftigungen fuͤr die Phantaſie hinzu. Der Grie-
che dichtete, dachte und raiſonnirte in ſeinem Elyſium.
Der kriegeriſche Nordlaͤnder gieng im Vallhall auf die
Jagd, und ſetzte den hieſigen Krieg mit Menſchen dor-
ten mit den Thieren fort. Der Himmel iſt nicht bey
allen Voͤlkern derſelbige, nur Schmerz und Kummer,
und Mißvergnuͤgen aus Widerſtand und Einſchraͤn-
kung, ſind uͤberall daraus verbannet; nicht ſo die ge-
miſchten Empfindungen, nicht die Freudenthraͤnen, nicht
einmal das Mitleid.

Die Beobachtung des Horaz *) uͤber das allgemei-
ne Beſtreben der Menſchen nach Ruhe und Muße
iſt nicht unrichtig. Aber dieſe Muße iſt nicht Unthaͤtig-
keit, nicht gaͤnzliche Ruhe, ſondern der leichte, ungehin-
derte, ſchmerzenloſe Gebrauch der Kraͤfte. Die Men-
ſchen wollen leben und des Lebens genießen; ſich beſchaͤf-

tigen
*) Otium diuos rogat in patenti
Prenſus Aegæo, — — —
Otium bello furioſa Thrace,
Otium Medi pharetra decori. ad Grosphum.

Ille, grauem duro terram qui vertit aratro,
Perfidus hic caupo, nautæque, per omne
Audaces mare qui currunt: hac mente laborem
Seſe ferre, ſenes ut in otia tuta recedant,
Aiunt. — — Serm. lib. I.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0828" n="798"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
kurs bey dem John&#x017F;on, den Hr. <hi rendition="#fr">Wieland</hi> anfu&#x0364;hrt,<lb/>
Himmel und Paradies zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen: &#x017F;o weiß der<lb/>
Men&#x017F;ch oft &#x017F;elb&#x017F;t nicht, was er will und wu&#x0364;n&#x017F;cht; und<lb/>
dennoch wu&#x0364;rden noch immer zehn u&#x0364;brig bleiben, die ei-<lb/>
nen &#x017F;olchen Zu&#x017F;tand auf immer unaus&#x017F;tehlich finden<lb/>
wu&#x0364;rden. Gegen die &#x017F;ogenannten Dokumente aus der<lb/>
Ge&#x017F;chichte des Herzens la&#x0364;ßt &#x017F;ich manches erinnern. Dem<lb/>
er&#x017F;chlafften Einwohner heißer La&#x0364;nder gefa&#x0364;llt ein Paradies,<lb/>
das nichts als Sinnenwollu&#x017F;t entha&#x0364;lt, in aller Ab&#x017F;icht.<lb/>
Der A&#x017F;iater von ho&#x0364;herer Einbildungskraft &#x017F;etzet noch<lb/>
Be&#x017F;cha&#x0364;fftigungen fu&#x0364;r die Phanta&#x017F;ie hinzu. Der Grie-<lb/>
che dichtete, dachte und rai&#x017F;onnirte in &#x017F;einem Ely&#x017F;ium.<lb/>
Der kriegeri&#x017F;che Nordla&#x0364;nder gieng im Vallhall auf die<lb/>
Jagd, und &#x017F;etzte den hie&#x017F;igen Krieg mit Men&#x017F;chen dor-<lb/>
ten mit den Thieren fort. Der Himmel i&#x017F;t nicht bey<lb/>
allen Vo&#x0364;lkern der&#x017F;elbige, nur Schmerz und Kummer,<lb/>
und Mißvergnu&#x0364;gen aus Wider&#x017F;tand und Ein&#x017F;chra&#x0364;n-<lb/>
kung, &#x017F;ind u&#x0364;berall daraus verbannet; nicht &#x017F;o die ge-<lb/>
mi&#x017F;chten Empfindungen, nicht die Freudenthra&#x0364;nen, nicht<lb/>
einmal das Mitleid.</p><lb/>
            <p>Die Beobachtung des <hi rendition="#fr">Horaz</hi> <note place="foot" n="*)"><cit><quote><hi rendition="#aq">Otium diuos rogat in patenti<lb/>
Pren&#x017F;us Aegæo, &#x2014; &#x2014; &#x2014;<lb/>
Otium bello furio&#x017F;a Thrace,<lb/>
Otium Medi pharetra decori. <hi rendition="#i">ad Grosphum.</hi></hi></quote><bibl/></cit><lb/><cit><quote><hi rendition="#aq">Ille, grauem duro terram qui vertit aratro,<lb/>
Perfidus hic caupo, nautæque, per omne<lb/>
Audaces mare qui currunt: hac mente laborem<lb/>
Se&#x017F;e ferre, &#x017F;enes ut in otia tuta recedant,<lb/>
Aiunt. &#x2014; &#x2014; <hi rendition="#i">Serm. lib. I.</hi></hi></quote><bibl/></cit></note> u&#x0364;ber das allgemei-<lb/>
ne Be&#x017F;treben der Men&#x017F;chen nach Ruhe und <hi rendition="#fr">Muße</hi><lb/>
i&#x017F;t nicht unrichtig. Aber die&#x017F;e Muße i&#x017F;t nicht Untha&#x0364;tig-<lb/>
keit, nicht ga&#x0364;nzliche Ruhe, &#x017F;ondern der leichte, ungehin-<lb/>
derte, &#x017F;chmerzenlo&#x017F;e Gebrauch der Kra&#x0364;fte. Die Men-<lb/>
&#x017F;chen wollen leben und des Lebens genießen; &#x017F;ich be&#x017F;cha&#x0364;f-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">tigen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[798/0828] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt kurs bey dem Johnſon, den Hr. Wieland anfuͤhrt, Himmel und Paradies zu ſeyn ſcheinen: ſo weiß der Menſch oft ſelbſt nicht, was er will und wuͤnſcht; und dennoch wuͤrden noch immer zehn uͤbrig bleiben, die ei- nen ſolchen Zuſtand auf immer unausſtehlich finden wuͤrden. Gegen die ſogenannten Dokumente aus der Geſchichte des Herzens laͤßt ſich manches erinnern. Dem erſchlafften Einwohner heißer Laͤnder gefaͤllt ein Paradies, das nichts als Sinnenwolluſt enthaͤlt, in aller Abſicht. Der Aſiater von hoͤherer Einbildungskraft ſetzet noch Beſchaͤfftigungen fuͤr die Phantaſie hinzu. Der Grie- che dichtete, dachte und raiſonnirte in ſeinem Elyſium. Der kriegeriſche Nordlaͤnder gieng im Vallhall auf die Jagd, und ſetzte den hieſigen Krieg mit Menſchen dor- ten mit den Thieren fort. Der Himmel iſt nicht bey allen Voͤlkern derſelbige, nur Schmerz und Kummer, und Mißvergnuͤgen aus Widerſtand und Einſchraͤn- kung, ſind uͤberall daraus verbannet; nicht ſo die ge- miſchten Empfindungen, nicht die Freudenthraͤnen, nicht einmal das Mitleid. Die Beobachtung des Horaz *) uͤber das allgemei- ne Beſtreben der Menſchen nach Ruhe und Muße iſt nicht unrichtig. Aber dieſe Muße iſt nicht Unthaͤtig- keit, nicht gaͤnzliche Ruhe, ſondern der leichte, ungehin- derte, ſchmerzenloſe Gebrauch der Kraͤfte. Die Men- ſchen wollen leben und des Lebens genießen; ſich beſchaͤf- tigen *) Otium diuos rogat in patenti Prenſus Aegæo, — — — Otium bello furioſa Thrace, Otium Medi pharetra decori. ad Grosphum. Ille, grauem duro terram qui vertit aratro, Perfidus hic caupo, nautæque, per omne Audaces mare qui currunt: hac mente laborem Seſe ferre, ſenes ut in otia tuta recedant, Aiunt. — — Serm. lib. I.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/828
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 798. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/828>, abgerufen am 18.05.2024.