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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität

Es ist für sich klar, daß, was den Jdeen von Objekten
im Gedächtnisse begegnet, auch den Vorstellungen von
Aktionen, und den erworbenen Fertigkeiten selbst, be-
gegnen könne. So lehrt es ja auch die Erfahrung, daß
besondere Vermögen, wenn sie lange ohne Uebung
geblieben sind, wie die Kraft des Magneten, geschwächt
werden, und dann noch nicht sogleich wieder in ihrer vorigen
Stärke da sind, wenn man schon die erfoderlichen Jdeen-
reihen von den Objekten erneuert hat. Die Ruhe ist
eine Erholung für die angestrengte Kraft; aber die län-
gere Unthätigkeit schwächet sie.

Wenn eine solche Schwäche aus Unthätigkeit in
den besondern Vermögen entstehet, so muß auch davon
eine schwächende Wirkung auf die übrigen und auf ihre
ganze Grundkraft sich ausbreiten, aus einem ähnlichen
Grunde, warum die Verstärkung eines Vermögens die
ganze Grundkraft verstärket, und auch in eben der
Maße. *) Jndessen kann dieser Wirkung dadurch, daß
ein anderes Vermögen desto mehr geschärfet und erhöhet
wird, vorgebogen werden, und zwar so, daß die Grund-
kraft der Seele im Ganzen noch immer an Stärke zu-
nimmt. Jst die Schwächung in den Vermögen nur
nicht allgemein, so mag wohl die äußere Empfindlichkeit
geringer werden, das Gedächtniß und die Phantasie
leiden; aber es folget nicht, daß die Seelenkraft im
Ganzen herunterkomme.

Ueberhaupt aber ist es aus der Natur der Sache
selbst so leicht zu begreifen, als durch die Erfahrung zu
bestätigen, daß die Vorstellungen von den Aktionen und
die Fertigkeiten zu handeln fester sitzen, als die Vorstel-
lungen von besondern Objekten dieser Thätigkeiten.
Habitus sunt difficulter mobiles. Jene sind viel öfte-
rer, auch bey andern Gegenständen als den vergessenen,

wieder-
*) Erster Abschnitt dieses Versuchs II. 6. III. 1.
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Es iſt fuͤr ſich klar, daß, was den Jdeen von Objekten
im Gedaͤchtniſſe begegnet, auch den Vorſtellungen von
Aktionen, und den erworbenen Fertigkeiten ſelbſt, be-
gegnen koͤnne. So lehrt es ja auch die Erfahrung, daß
beſondere Vermoͤgen, wenn ſie lange ohne Uebung
geblieben ſind, wie die Kraft des Magneten, geſchwaͤcht
werden, und dann noch nicht ſogleich wieder in ihrer vorigen
Staͤrke da ſind, wenn man ſchon die erfoderlichen Jdeen-
reihen von den Objekten erneuert hat. Die Ruhe iſt
eine Erholung fuͤr die angeſtrengte Kraft; aber die laͤn-
gere Unthaͤtigkeit ſchwaͤchet ſie.

Wenn eine ſolche Schwaͤche aus Unthaͤtigkeit in
den beſondern Vermoͤgen entſtehet, ſo muß auch davon
eine ſchwaͤchende Wirkung auf die uͤbrigen und auf ihre
ganze Grundkraft ſich ausbreiten, aus einem aͤhnlichen
Grunde, warum die Verſtaͤrkung eines Vermoͤgens die
ganze Grundkraft verſtaͤrket, und auch in eben der
Maße. *) Jndeſſen kann dieſer Wirkung dadurch, daß
ein anderes Vermoͤgen deſto mehr geſchaͤrfet und erhoͤhet
wird, vorgebogen werden, und zwar ſo, daß die Grund-
kraft der Seele im Ganzen noch immer an Staͤrke zu-
nimmt. Jſt die Schwaͤchung in den Vermoͤgen nur
nicht allgemein, ſo mag wohl die aͤußere Empfindlichkeit
geringer werden, das Gedaͤchtniß und die Phantaſie
leiden; aber es folget nicht, daß die Seelenkraft im
Ganzen herunterkomme.

Ueberhaupt aber iſt es aus der Natur der Sache
ſelbſt ſo leicht zu begreifen, als durch die Erfahrung zu
beſtaͤtigen, daß die Vorſtellungen von den Aktionen und
die Fertigkeiten zu handeln feſter ſitzen, als die Vorſtel-
lungen von beſondern Objekten dieſer Thaͤtigkeiten.
Habitus ſunt difficulter mobiles. Jene ſind viel oͤfte-
rer, auch bey andern Gegenſtaͤnden als den vergeſſenen,

wieder-
*) Erſter Abſchnitt dieſes Verſuchs II. 6. III. 1.
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[734/0764] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Es iſt fuͤr ſich klar, daß, was den Jdeen von Objekten im Gedaͤchtniſſe begegnet, auch den Vorſtellungen von Aktionen, und den erworbenen Fertigkeiten ſelbſt, be- gegnen koͤnne. So lehrt es ja auch die Erfahrung, daß beſondere Vermoͤgen, wenn ſie lange ohne Uebung geblieben ſind, wie die Kraft des Magneten, geſchwaͤcht werden, und dann noch nicht ſogleich wieder in ihrer vorigen Staͤrke da ſind, wenn man ſchon die erfoderlichen Jdeen- reihen von den Objekten erneuert hat. Die Ruhe iſt eine Erholung fuͤr die angeſtrengte Kraft; aber die laͤn- gere Unthaͤtigkeit ſchwaͤchet ſie. Wenn eine ſolche Schwaͤche aus Unthaͤtigkeit in den beſondern Vermoͤgen entſtehet, ſo muß auch davon eine ſchwaͤchende Wirkung auf die uͤbrigen und auf ihre ganze Grundkraft ſich ausbreiten, aus einem aͤhnlichen Grunde, warum die Verſtaͤrkung eines Vermoͤgens die ganze Grundkraft verſtaͤrket, und auch in eben der Maße. *) Jndeſſen kann dieſer Wirkung dadurch, daß ein anderes Vermoͤgen deſto mehr geſchaͤrfet und erhoͤhet wird, vorgebogen werden, und zwar ſo, daß die Grund- kraft der Seele im Ganzen noch immer an Staͤrke zu- nimmt. Jſt die Schwaͤchung in den Vermoͤgen nur nicht allgemein, ſo mag wohl die aͤußere Empfindlichkeit geringer werden, das Gedaͤchtniß und die Phantaſie leiden; aber es folget nicht, daß die Seelenkraft im Ganzen herunterkomme. Ueberhaupt aber iſt es aus der Natur der Sache ſelbſt ſo leicht zu begreifen, als durch die Erfahrung zu beſtaͤtigen, daß die Vorſtellungen von den Aktionen und die Fertigkeiten zu handeln feſter ſitzen, als die Vorſtel- lungen von beſondern Objekten dieſer Thaͤtigkeiten. Habitus ſunt difficulter mobiles. Jene ſind viel oͤfte- rer, auch bey andern Gegenſtaͤnden als den vergeſſenen, wieder- *) Erſter Abſchnitt dieſes Verſuchs II. 6. III. 1.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 734. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/764>, abgerufen am 14.08.2024.