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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Abnahme seiner Kräfte und die immer wachsende
Schwächung an Seele und Körper ansehen, die sich zu-
letzt mit der Zerstörung der Natur endiget; die tausen-
derley Arten von unangenehmen Empfindungen und
Schmerzen, die ihm inzwischen aufstoßen und seiner
letztern Periode besonders ankleben, nicht einmal mitge-
rechnet: so wird die Betrachtung so traurig und nie-
derschlagend, daß wir Ursache haben nach Hoffnungs-
gründen auf die Zukunft uns umzusehen.

Wenn der Mensch ganz aus Körper besteht, so ist
dieß seine Naturgeschichte. Er wächset auf, entwickelt
sich, kommt zum Stillstand, geht zurück, und wird
zerstört. Und wenn es dieß alles ist, so wüßte ich nicht,
ob es nicht mehr Weisheit wäre, hievon die Augen et-
was leichtsinnig wegzuwenden, oder doch nur oben dar-
über hinzusehen, als sich um eine zu deutliche und an-
schauliche Vorstellung davon zu bemühen. Macht uns
das Nichtwissen dumm: so kann uns auch das For-
schen nur Verdruß machen, wie Haller sagt. Wie oft
würde nicht ein anderer Ausspruch von ihm wahr werden:

Daß, wer aus steifem Sinn, mit Schwermuth wohl be-
wehret,
Sein forschend Denken ganz in diese Tiefen kehret,
Kriegt oft, für wahres Licht und immer helle Lust,
Nur Würmer in den Kopf und Dolche in die Brust?

Aber da der Mensch in seinem Körper ein unkörper-
liches Wesen von höherer Art besitzt, so verhält sich die
Sache anders. Man suche nur durch den äußern
Schein, so viel man kann, das Jnnere zu sehen: und
ich hoffe, man werde finden, daß eben der Mensch, der
in seinem Aufblühen liebenswürdig und in seiner Reife
das hochachtungswürdigste unter den sichtbaren Wesen
ist, noch in der letzten Periode seiner Abnahme als das
ehrwürdigste erscheinen werde.

2. Um

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Abnahme ſeiner Kraͤfte und die immer wachſende
Schwaͤchung an Seele und Koͤrper anſehen, die ſich zu-
letzt mit der Zerſtoͤrung der Natur endiget; die tauſen-
derley Arten von unangenehmen Empfindungen und
Schmerzen, die ihm inzwiſchen aufſtoßen und ſeiner
letztern Periode beſonders ankleben, nicht einmal mitge-
rechnet: ſo wird die Betrachtung ſo traurig und nie-
derſchlagend, daß wir Urſache haben nach Hoffnungs-
gruͤnden auf die Zukunft uns umzuſehen.

Wenn der Menſch ganz aus Koͤrper beſteht, ſo iſt
dieß ſeine Naturgeſchichte. Er waͤchſet auf, entwickelt
ſich, kommt zum Stillſtand, geht zuruͤck, und wird
zerſtoͤrt. Und wenn es dieß alles iſt, ſo wuͤßte ich nicht,
ob es nicht mehr Weisheit waͤre, hievon die Augen et-
was leichtſinnig wegzuwenden, oder doch nur oben dar-
uͤber hinzuſehen, als ſich um eine zu deutliche und an-
ſchauliche Vorſtellung davon zu bemuͤhen. Macht uns
das Nichtwiſſen dumm: ſo kann uns auch das For-
ſchen nur Verdruß machen, wie Haller ſagt. Wie oft
wuͤrde nicht ein anderer Ausſpruch von ihm wahr werden:

Daß, wer aus ſteifem Sinn, mit Schwermuth wohl be-
wehret,
Sein forſchend Denken ganz in dieſe Tiefen kehret,
Kriegt oft, fuͤr wahres Licht und immer helle Luſt,
Nur Wuͤrmer in den Kopf und Dolche in die Bruſt?

Aber da der Menſch in ſeinem Koͤrper ein unkoͤrper-
liches Weſen von hoͤherer Art beſitzt, ſo verhaͤlt ſich die
Sache anders. Man ſuche nur durch den aͤußern
Schein, ſo viel man kann, das Jnnere zu ſehen: und
ich hoffe, man werde finden, daß eben der Menſch, der
in ſeinem Aufbluͤhen liebenswuͤrdig und in ſeiner Reife
das hochachtungswuͤrdigſte unter den ſichtbaren Weſen
iſt, noch in der letzten Periode ſeiner Abnahme als das
ehrwuͤrdigſte erſcheinen werde.

2. Um
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[710/0740] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Abnahme ſeiner Kraͤfte und die immer wachſende Schwaͤchung an Seele und Koͤrper anſehen, die ſich zu- letzt mit der Zerſtoͤrung der Natur endiget; die tauſen- derley Arten von unangenehmen Empfindungen und Schmerzen, die ihm inzwiſchen aufſtoßen und ſeiner letztern Periode beſonders ankleben, nicht einmal mitge- rechnet: ſo wird die Betrachtung ſo traurig und nie- derſchlagend, daß wir Urſache haben nach Hoffnungs- gruͤnden auf die Zukunft uns umzuſehen. Wenn der Menſch ganz aus Koͤrper beſteht, ſo iſt dieß ſeine Naturgeſchichte. Er waͤchſet auf, entwickelt ſich, kommt zum Stillſtand, geht zuruͤck, und wird zerſtoͤrt. Und wenn es dieß alles iſt, ſo wuͤßte ich nicht, ob es nicht mehr Weisheit waͤre, hievon die Augen et- was leichtſinnig wegzuwenden, oder doch nur oben dar- uͤber hinzuſehen, als ſich um eine zu deutliche und an- ſchauliche Vorſtellung davon zu bemuͤhen. Macht uns das Nichtwiſſen dumm: ſo kann uns auch das For- ſchen nur Verdruß machen, wie Haller ſagt. Wie oft wuͤrde nicht ein anderer Ausſpruch von ihm wahr werden: Daß, wer aus ſteifem Sinn, mit Schwermuth wohl be- wehret, Sein forſchend Denken ganz in dieſe Tiefen kehret, Kriegt oft, fuͤr wahres Licht und immer helle Luſt, Nur Wuͤrmer in den Kopf und Dolche in die Bruſt? Aber da der Menſch in ſeinem Koͤrper ein unkoͤrper- liches Weſen von hoͤherer Art beſitzt, ſo verhaͤlt ſich die Sache anders. Man ſuche nur durch den aͤußern Schein, ſo viel man kann, das Jnnere zu ſehen: und ich hoffe, man werde finden, daß eben der Menſch, der in ſeinem Aufbluͤhen liebenswuͤrdig und in ſeiner Reife das hochachtungswuͤrdigſte unter den ſichtbaren Weſen iſt, noch in der letzten Periode ſeiner Abnahme als das ehrwuͤrdigſte erſcheinen werde. 2. Um

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 710. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/740>, abgerufen am 27.11.2024.