Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität zu Rednergründen gefunden haben, wenn er, wie er ver-suchte, den kultivirten Europäer gegen den Hottentotten heruntersetzen wollte. Wie viel hat der erstere an menschlichen innern Realitäten vor dem letztern voraus? Jndessen würde am Ende nichts als eine schöne Dekla- mation herausgekommen seyn, wie es die ist, da er die Vergleichung mehr in Rücksicht auf ihre Glückseligkeit angestellet. Jch schätze den scharfsehenden Mann, und glaube, man müsse ihm Dank wissen für seine Arbeit. Er hat den Menschen und seine Verhältnisse von einer Seite dargestellt, wo die Vorurtheile hinderten ihn zu betrachten, und die Eigenliebe der mehresten ihn nicht einmal gern sieht. Allein womit würde Rousseau beweisen, daß Wildheit und Barbarey den Menschen und seine Kräfte eben so vortheilhaft für seine innere menschliche Größe entwickeln, als die Kultur durch Kün- ste und Wissenschaften? Sein Waldmensch, gesetzt auch, er konnte das seyn und bleiben, was er ihn seyn läßt, stehr doch wohl an innerer Vollkommenheit sehr weit unter dem Menschen in eingerichteten und polizirten Gesellschaften zurück? Die Wilden auf Nordholland und ihres gleichen, die doch um einen guten Grad wei- ter sind als jener, sind in Vergleichung mit den Kul- tivirten offenbar nichts mehr als Kinder, in Vergleichung mit Männern. Es ist doch der niedrigste Haufe un- ter uns, zu dem doch immer etwas von der Aufklärung im Ganzen hinkommt, gescheuter, überlegender und, wenns darauf ankommt, eben so voller Entschlossenheit und Muth, als die Wilden überhaupt alle sind. Zum wenigsten haben die polizirten Gesellschaften doch ihre hervorragenden Mitglieder voraus. So lehren es vor- her schon gedachte (VI. 4.) Fakta aus der Geschichte. Ob es nicht auch ein gewisses Aeußerstes auf der Men-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt zu Rednergruͤnden gefunden haben, wenn er, wie er ver-ſuchte, den kultivirten Europaͤer gegen den Hottentotten herunterſetzen wollte. Wie viel hat der erſtere an menſchlichen innern Realitaͤten vor dem letztern voraus? Jndeſſen wuͤrde am Ende nichts als eine ſchoͤne Dekla- mation herausgekommen ſeyn, wie es die iſt, da er die Vergleichung mehr in Ruͤckſicht auf ihre Gluͤckſeligkeit angeſtellet. Jch ſchaͤtze den ſcharfſehenden Mann, und glaube, man muͤſſe ihm Dank wiſſen fuͤr ſeine Arbeit. Er hat den Menſchen und ſeine Verhaͤltniſſe von einer Seite dargeſtellt, wo die Vorurtheile hinderten ihn zu betrachten, und die Eigenliebe der mehreſten ihn nicht einmal gern ſieht. Allein womit wuͤrde Rouſſeau beweiſen, daß Wildheit und Barbarey den Menſchen und ſeine Kraͤfte eben ſo vortheilhaft fuͤr ſeine innere menſchliche Groͤße entwickeln, als die Kultur durch Kuͤn- ſte und Wiſſenſchaften? Sein Waldmenſch, geſetzt auch, er konnte das ſeyn und bleiben, was er ihn ſeyn laͤßt, ſtehr doch wohl an innerer Vollkommenheit ſehr weit unter dem Menſchen in eingerichteten und polizirten Geſellſchaften zuruͤck? Die Wilden auf Nordholland und ihres gleichen, die doch um einen guten Grad wei- ter ſind als jener, ſind in Vergleichung mit den Kul- tivirten offenbar nichts mehr als Kinder, in Vergleichung mit Maͤnnern. Es iſt doch der niedrigſte Haufe un- ter uns, zu dem doch immer etwas von der Aufklaͤrung im Ganzen hinkommt, geſcheuter, uͤberlegender und, wenns darauf ankommt, eben ſo voller Entſchloſſenheit und Muth, als die Wilden uͤberhaupt alle ſind. Zum wenigſten haben die polizirten Geſellſchaften doch ihre hervorragenden Mitglieder voraus. So lehren es vor- her ſchon gedachte (VI. 4.) Fakta aus der Geſchichte. Ob es nicht auch ein gewiſſes Aeußerſtes auf der Men-
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
zu Rednergruͤnden gefunden haben, wenn er, wie er ver-
ſuchte, den kultivirten Europaͤer gegen den Hottentotten
herunterſetzen wollte. Wie viel hat der erſtere an
menſchlichen innern Realitaͤten vor dem letztern voraus?
Jndeſſen wuͤrde am Ende nichts als eine ſchoͤne Dekla-
mation herausgekommen ſeyn, wie es die iſt, da er die
Vergleichung mehr in Ruͤckſicht auf ihre Gluͤckſeligkeit
angeſtellet. Jch ſchaͤtze den ſcharfſehenden Mann, und
glaube, man muͤſſe ihm Dank wiſſen fuͤr ſeine Arbeit.
Er hat den Menſchen und ſeine Verhaͤltniſſe von einer
Seite dargeſtellt, wo die Vorurtheile hinderten ihn zu
betrachten, und die Eigenliebe der mehreſten ihn nicht
einmal gern ſieht. Allein womit wuͤrde Rouſſeau
beweiſen, daß Wildheit und Barbarey den Menſchen
und ſeine Kraͤfte eben ſo vortheilhaft fuͤr ſeine innere
menſchliche Groͤße entwickeln, als die Kultur durch Kuͤn-
ſte und Wiſſenſchaften? Sein Waldmenſch, geſetzt
auch, er konnte das ſeyn und bleiben, was er ihn ſeyn
laͤßt, ſtehr doch wohl an innerer Vollkommenheit ſehr
weit unter dem Menſchen in eingerichteten und polizirten
Geſellſchaften zuruͤck? Die Wilden auf Nordholland
und ihres gleichen, die doch um einen guten Grad wei-
ter ſind als jener, ſind in Vergleichung mit den Kul-
tivirten offenbar nichts mehr als Kinder, in Vergleichung
mit Maͤnnern. Es iſt doch der niedrigſte Haufe un-
ter uns, zu dem doch immer etwas von der Aufklaͤrung
im Ganzen hinkommt, geſcheuter, uͤberlegender und,
wenns darauf ankommt, eben ſo voller Entſchloſſenheit
und Muth, als die Wilden uͤberhaupt alle ſind. Zum
wenigſten haben die polizirten Geſellſchaften doch ihre
hervorragenden Mitglieder voraus. So lehren es vor-
her ſchon gedachte (VI. 4.) Fakta aus der Geſchichte.
Ob es nicht auch ein gewiſſes Aeußerſtes auf der
andern Seite gebe? Ob nicht die Verfeinerung in der
Geſellſchaft, die Vervielfaͤltigung der Beziehungen der
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