Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität Beziehung auf seine Kräfte und Vermögen stehen: de-sto stärker und ausgebreiteter wird die Menschheit sich entwickeln. Allein sobald es zur nähern Bestimmung dieser allgemeinen Regel kommt, und nun auf die indi- viduellen Verhältnisse der Menschen in der Welt und in der Gesellschaft gesehen werden muß, so ist alles voller Schwierigkeiten. Das Gefühl der Bedürfnisse und das Gefühl der Kräfte soll in einem gewissen Verhält- nisse zu einander stehen, wo leicht auf der einen oder der andern Seite zu viel oder zu wenig seyn kann. Auch die verschiedenen Arten von Bedürfnissen müssen unter sich ein schickliches Verhältniß haben. Körperliche Be- dürfnisse sollen da seyn, aber nicht in der Maße, daß der Mensch keine andern kennen lerne; nicht so dringen- de, daß sie die thätige Kraft immer und gänzlich auf sich ziehen und sie verzehren, daß diese auf andere Dinge sich nicht einlassen kann. Bedürfnisse müssen da seyn; aber auch Muth und Zuversicht in dem Men- schen zu sich selbst. Werden jene allzu leicht gehoben, so geben sie nicht Anstrengung genug für die Selbstthä- tigkeit. Sind sie allzu drückend, so verursachen sie Muthlosigkeit und Verzweiflung. Alsdenn läßt der Mensch mit sich anfangen und machen was man will, und verliert auch den Rest von innerer Selbstmacht, den er noch besaß. Die sinnlichen Vergnügungen kön- nen sehr leicht über ihr Maß gehen und schädlich wer- den. Und dennoch bedarf der Mensch ihrer zu seiner Erquickung, und um Zutrauen zu sich selbst und zu seinen Kräften zu erlangen. Gleich ferne von Noth und Ue- berfluß war der Wunsch des Weisen. Zwischen jedem Aeußersten lieget die Mittelmäßigkeit, die den meisten am angemessensten ist. Allein wie schwer ist es hier, die Stufen und Grade zu bestimmen? Wenn gleich die Grenze zwischen dem Zuviel und Zuwenig eine ge- wisse Breite hat, so daß es auf etwas mehr oder weni- ger
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Beziehung auf ſeine Kraͤfte und Vermoͤgen ſtehen: de-ſto ſtaͤrker und ausgebreiteter wird die Menſchheit ſich entwickeln. Allein ſobald es zur naͤhern Beſtimmung dieſer allgemeinen Regel kommt, und nun auf die indi- viduellen Verhaͤltniſſe der Menſchen in der Welt und in der Geſellſchaft geſehen werden muß, ſo iſt alles voller Schwierigkeiten. Das Gefuͤhl der Beduͤrfniſſe und das Gefuͤhl der Kraͤfte ſoll in einem gewiſſen Verhaͤlt- niſſe zu einander ſtehen, wo leicht auf der einen oder der andern Seite zu viel oder zu wenig ſeyn kann. Auch die verſchiedenen Arten von Beduͤrfniſſen muͤſſen unter ſich ein ſchickliches Verhaͤltniß haben. Koͤrperliche Be- duͤrfniſſe ſollen da ſeyn, aber nicht in der Maße, daß der Menſch keine andern kennen lerne; nicht ſo dringen- de, daß ſie die thaͤtige Kraft immer und gaͤnzlich auf ſich ziehen und ſie verzehren, daß dieſe auf andere Dinge ſich nicht einlaſſen kann. Beduͤrfniſſe muͤſſen da ſeyn; aber auch Muth und Zuverſicht in dem Men- ſchen zu ſich ſelbſt. Werden jene allzu leicht gehoben, ſo geben ſie nicht Anſtrengung genug fuͤr die Selbſtthaͤ- tigkeit. Sind ſie allzu druͤckend, ſo verurſachen ſie Muthloſigkeit und Verzweiflung. Alsdenn laͤßt der Menſch mit ſich anfangen und machen was man will, und verliert auch den Reſt von innerer Selbſtmacht, den er noch beſaß. Die ſinnlichen Vergnuͤgungen koͤn- nen ſehr leicht uͤber ihr Maß gehen und ſchaͤdlich wer- den. Und dennoch bedarf der Menſch ihrer zu ſeiner Erquickung, und um Zutrauen zu ſich ſelbſt und zu ſeinen Kraͤften zu erlangen. Gleich ferne von Noth und Ue- berfluß war der Wunſch des Weiſen. Zwiſchen jedem Aeußerſten lieget die Mittelmaͤßigkeit, die den meiſten am angemeſſenſten iſt. Allein wie ſchwer iſt es hier, die Stufen und Grade zu beſtimmen? Wenn gleich die Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig eine ge- wiſſe Breite hat, ſo daß es auf etwas mehr oder weni- ger
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Beziehung auf ſeine Kraͤfte und Vermoͤgen ſtehen: de-
ſto ſtaͤrker und ausgebreiteter wird die Menſchheit ſich
entwickeln. Allein ſobald es zur naͤhern Beſtimmung
dieſer allgemeinen Regel kommt, und nun auf die indi-
viduellen Verhaͤltniſſe der Menſchen in der Welt und in
der Geſellſchaft geſehen werden muß, ſo iſt alles voller
Schwierigkeiten. Das Gefuͤhl der Beduͤrfniſſe und
das Gefuͤhl der Kraͤfte ſoll in einem gewiſſen Verhaͤlt-
niſſe zu einander ſtehen, wo leicht auf der einen oder
der andern Seite zu viel oder zu wenig ſeyn kann. Auch
die verſchiedenen Arten von Beduͤrfniſſen muͤſſen unter
ſich ein ſchickliches Verhaͤltniß haben. Koͤrperliche Be-
duͤrfniſſe ſollen da ſeyn, aber nicht in der Maße, daß
der Menſch keine andern kennen lerne; nicht ſo dringen-
de, daß ſie die thaͤtige Kraft immer und gaͤnzlich auf
ſich ziehen und ſie verzehren, daß dieſe auf andere
Dinge ſich nicht einlaſſen kann. Beduͤrfniſſe muͤſſen
da ſeyn; aber auch Muth und Zuverſicht in dem Men-
ſchen zu ſich ſelbſt. Werden jene allzu leicht gehoben,
ſo geben ſie nicht Anſtrengung genug fuͤr die Selbſtthaͤ-
tigkeit. Sind ſie allzu druͤckend, ſo verurſachen ſie
Muthloſigkeit und Verzweiflung. Alsdenn laͤßt der
Menſch mit ſich anfangen und machen was man will,
und verliert auch den Reſt von innerer Selbſtmacht,
den er noch beſaß. Die ſinnlichen Vergnuͤgungen koͤn-
nen ſehr leicht uͤber ihr Maß gehen und ſchaͤdlich wer-
den. Und dennoch bedarf der Menſch ihrer zu ſeiner
Erquickung, und um Zutrauen zu ſich ſelbſt und zu ſeinen
Kraͤften zu erlangen. Gleich ferne von Noth und Ue-
berfluß war der Wunſch des Weiſen. Zwiſchen jedem
Aeußerſten lieget die Mittelmaͤßigkeit, die den meiſten
am angemeſſenſten iſt. Allein wie ſchwer iſt es hier,
die Stufen und Grade zu beſtimmen? Wenn gleich
die Grenze zwiſchen dem Zuviel und Zuwenig eine ge-
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