Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
lichen Vergnügen, das dem Sklaven zu Theil werden
kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem glücklichen
Thiere, nie aber zu einem glücklichen selbstthätigen Men-
schen macht.

Die gänzliche Unabhängigkeit dagegen kann eben
so wenig mit der menschlichen Vervollkommnung be-
stehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig-
stens der Mensch im Anfange seiner Ausbildung nicht
glücklich seyn. Und ehe er dahin kommt, daß er sich
selbst regieren lernet, würden Trägheit und Sinnlichkeit
die Kräfte der Natur schon zu sehr geschwächt und
verdorben haben, als daß sie einen vorzüglichen Grad
von einer Stärke und Vollkommenheit mehr annehmen
könnten. Die einzelnen Ausnahmen sind allzu selten, als
daß sie in Anschlag gebracht werden könnten. Wie viele
würden aber auch im Besitze der erlangten Geistesgüter
bleiben, wenn alle Einschränkung der Begierden von
außen gehoben würde? Völker ohne Gesetze und ohne
Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu
rechnen ist, müssen durchaus nur einfache Begierden
haben, und also auch nur auf eine einfache und niedrige
Art sich ausbilden, wie die Geschichte bestätiget. Es
ist allenthalben das schwer zu treffende Mittel, das uns
zu unserm Besten am anpassendsten ist.

Jndessen ist es überhaupt richtig, daß der Mensch
nur da, wo er unabhängig von andern und ohne Zwang
handelt, nur insofern als ein selbstthätiges Wesen
handele. Die innere Unabhängigkeit von Leidenschaften
und Hindernissen der Begierden ist unendlich wichtiger,
als die äußere Freyheit. So sehr ist kein Mensch Skla-
ve von einem andern, daß nicht auch sogar in seinen
äußern Handlungen besondere Bestimmungen und Ein-
richtungen genug auf seine Willkür ankommen sollten;
desto mehr, je größer seine innere Freyheit des Geistes
ist. Uebrigens ist das Bedürfniß selbstthätig handeln

zu

und Entwickelung des Menſchen.
lichen Vergnuͤgen, das dem Sklaven zu Theil werden
kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem gluͤcklichen
Thiere, nie aber zu einem gluͤcklichen ſelbſtthaͤtigen Men-
ſchen macht.

Die gaͤnzliche Unabhaͤngigkeit dagegen kann eben
ſo wenig mit der menſchlichen Vervollkommnung be-
ſtehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig-
ſtens der Menſch im Anfange ſeiner Ausbildung nicht
gluͤcklich ſeyn. Und ehe er dahin kommt, daß er ſich
ſelbſt regieren lernet, wuͤrden Traͤgheit und Sinnlichkeit
die Kraͤfte der Natur ſchon zu ſehr geſchwaͤcht und
verdorben haben, als daß ſie einen vorzuͤglichen Grad
von einer Staͤrke und Vollkommenheit mehr annehmen
koͤnnten. Die einzelnen Ausnahmen ſind allzu ſelten, als
daß ſie in Anſchlag gebracht werden koͤnnten. Wie viele
wuͤrden aber auch im Beſitze der erlangten Geiſtesguͤter
bleiben, wenn alle Einſchraͤnkung der Begierden von
außen gehoben wuͤrde? Voͤlker ohne Geſetze und ohne
Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu
rechnen iſt, muͤſſen durchaus nur einfache Begierden
haben, und alſo auch nur auf eine einfache und niedrige
Art ſich ausbilden, wie die Geſchichte beſtaͤtiget. Es
iſt allenthalben das ſchwer zu treffende Mittel, das uns
zu unſerm Beſten am anpaſſendſten iſt.

Jndeſſen iſt es uͤberhaupt richtig, daß der Menſch
nur da, wo er unabhaͤngig von andern und ohne Zwang
handelt, nur inſofern als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen
handele. Die innere Unabhaͤngigkeit von Leidenſchaften
und Hinderniſſen der Begierden iſt unendlich wichtiger,
als die aͤußere Freyheit. So ſehr iſt kein Menſch Skla-
ve von einem andern, daß nicht auch ſogar in ſeinen
aͤußern Handlungen beſondere Beſtimmungen und Ein-
richtungen genug auf ſeine Willkuͤr ankommen ſollten;
deſto mehr, je groͤßer ſeine innere Freyheit des Geiſtes
iſt. Uebrigens iſt das Beduͤrfniß ſelbſtthaͤtig handeln

zu
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0731" n="701"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
lichen Vergnu&#x0364;gen, das dem Sklaven zu Theil werden<lb/>
kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem glu&#x0364;cklichen<lb/>
Thiere, nie aber zu einem glu&#x0364;cklichen &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen Men-<lb/>
&#x017F;chen macht.</p><lb/>
              <p>Die ga&#x0364;nzliche Unabha&#x0364;ngigkeit dagegen kann eben<lb/>
&#x017F;o wenig mit der men&#x017F;chlichen Vervollkommnung be-<lb/>
&#x017F;tehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig-<lb/>
&#x017F;tens der Men&#x017F;ch im Anfange &#x017F;einer Ausbildung nicht<lb/>
glu&#x0364;cklich &#x017F;eyn. Und ehe er dahin kommt, daß er &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t regieren lernet, wu&#x0364;rden Tra&#x0364;gheit und Sinnlichkeit<lb/>
die Kra&#x0364;fte der Natur &#x017F;chon zu &#x017F;ehr ge&#x017F;chwa&#x0364;cht und<lb/>
verdorben haben, als daß &#x017F;ie einen vorzu&#x0364;glichen Grad<lb/>
von einer Sta&#x0364;rke und Vollkommenheit mehr annehmen<lb/>
ko&#x0364;nnten. Die einzelnen Ausnahmen &#x017F;ind allzu &#x017F;elten, als<lb/>
daß &#x017F;ie in An&#x017F;chlag gebracht werden ko&#x0364;nnten. Wie viele<lb/>
wu&#x0364;rden aber auch im Be&#x017F;itze der erlangten Gei&#x017F;tesgu&#x0364;ter<lb/>
bleiben, wenn alle Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung der Begierden von<lb/>
außen gehoben wu&#x0364;rde? Vo&#x0364;lker ohne Ge&#x017F;etze und ohne<lb/>
Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu<lb/>
rechnen i&#x017F;t, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en durchaus nur einfache Begierden<lb/>
haben, und al&#x017F;o auch nur auf eine einfache und niedrige<lb/>
Art &#x017F;ich ausbilden, wie die Ge&#x017F;chichte be&#x017F;ta&#x0364;tiget. Es<lb/>
i&#x017F;t allenthalben das &#x017F;chwer zu treffende Mittel, das uns<lb/>
zu un&#x017F;erm Be&#x017F;ten am anpa&#x017F;&#x017F;end&#x017F;ten i&#x017F;t.</p><lb/>
              <p>Jnde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t es u&#x0364;berhaupt richtig, daß der Men&#x017F;ch<lb/>
nur da, wo er unabha&#x0364;ngig von andern und ohne Zwang<lb/>
handelt, nur in&#x017F;ofern als ein &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tiges We&#x017F;en<lb/>
handele. Die innere Unabha&#x0364;ngigkeit von Leiden&#x017F;chaften<lb/>
und Hinderni&#x017F;&#x017F;en der Begierden i&#x017F;t unendlich wichtiger,<lb/>
als die a&#x0364;ußere Freyheit. So &#x017F;ehr i&#x017F;t kein Men&#x017F;ch Skla-<lb/>
ve von einem andern, daß nicht auch &#x017F;ogar in &#x017F;einen<lb/>
a&#x0364;ußern Handlungen be&#x017F;ondere Be&#x017F;timmungen und Ein-<lb/>
richtungen genug auf &#x017F;eine Willku&#x0364;r ankommen &#x017F;ollten;<lb/>
de&#x017F;to mehr, je gro&#x0364;ßer &#x017F;eine innere Freyheit des Gei&#x017F;tes<lb/>
i&#x017F;t. Uebrigens i&#x017F;t das Bedu&#x0364;rfniß &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tig handeln<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zu</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[701/0731] und Entwickelung des Menſchen. lichen Vergnuͤgen, das dem Sklaven zu Theil werden kann, und ihn, wenns hoch kommt, zu einem gluͤcklichen Thiere, nie aber zu einem gluͤcklichen ſelbſtthaͤtigen Men- ſchen macht. Die gaͤnzliche Unabhaͤngigkeit dagegen kann eben ſo wenig mit der menſchlichen Vervollkommnung be- ſtehen. Ohne einigen Zwang von außen kann wenig- ſtens der Menſch im Anfange ſeiner Ausbildung nicht gluͤcklich ſeyn. Und ehe er dahin kommt, daß er ſich ſelbſt regieren lernet, wuͤrden Traͤgheit und Sinnlichkeit die Kraͤfte der Natur ſchon zu ſehr geſchwaͤcht und verdorben haben, als daß ſie einen vorzuͤglichen Grad von einer Staͤrke und Vollkommenheit mehr annehmen koͤnnten. Die einzelnen Ausnahmen ſind allzu ſelten, als daß ſie in Anſchlag gebracht werden koͤnnten. Wie viele wuͤrden aber auch im Beſitze der erlangten Geiſtesguͤter bleiben, wenn alle Einſchraͤnkung der Begierden von außen gehoben wuͤrde? Voͤlker ohne Geſetze und ohne Obrigkeit, wozu doch auch die Familienregierung zu rechnen iſt, muͤſſen durchaus nur einfache Begierden haben, und alſo auch nur auf eine einfache und niedrige Art ſich ausbilden, wie die Geſchichte beſtaͤtiget. Es iſt allenthalben das ſchwer zu treffende Mittel, das uns zu unſerm Beſten am anpaſſendſten iſt. Jndeſſen iſt es uͤberhaupt richtig, daß der Menſch nur da, wo er unabhaͤngig von andern und ohne Zwang handelt, nur inſofern als ein ſelbſtthaͤtiges Weſen handele. Die innere Unabhaͤngigkeit von Leidenſchaften und Hinderniſſen der Begierden iſt unendlich wichtiger, als die aͤußere Freyheit. So ſehr iſt kein Menſch Skla- ve von einem andern, daß nicht auch ſogar in ſeinen aͤußern Handlungen beſondere Beſtimmungen und Ein- richtungen genug auf ſeine Willkuͤr ankommen ſollten; deſto mehr, je groͤßer ſeine innere Freyheit des Geiſtes iſt. Uebrigens iſt das Beduͤrfniß ſelbſtthaͤtig handeln zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/731
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/731>, abgerufen am 19.05.2024.