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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
sehung durch die Einlenkung der Begebenheiten in der
Welt gewähren kann, und hiebey auf die Absicht und
Bestimmung des Menschengeschlechts Rücksicht nimmt:
so giebt die gedachte Gleichheit in der Ausbildung an
den wesentlichsten Stücken einen Grund zu glauben,
"daß die Absicht der Vorsehung bey allen in solcher
"Maße erreichet werde, daß das, was zurückbleibet,
"keinen Zweifel gegen die göttliche Fürsorge auch für
"die Elendsten der Erden gründen kann." Hier ist es
ein merkwürdiger Satz: "was wirklich bey allen errei-
"chet wird, ist das wesentlichste, und größer und wich-
"tiger, als das, was nicht erreichet wird, und was ehe
"noch und leichter hinzukommen kann, als das erstere,
"was bewirket ist." Hieraus können freylich nicht alle
Fragen beantwortet werden, die man bey der allgemei-
nen Vorsehung aufgeworfen hat. Aber laßt uns anneh-
men, was man annehmen muß, daß die innere Ver-
vollkommnung des Geistes Einer der Hauptzwecke sey,
warum Gott die menschliche Seele in die gegenwärtige
Verknüpfung gesetzt! Dieser Zweck wird bey allen Jn-
dividuen in seinen wesentlichsten Stücken erhalten.
Selbst in dem Bösewicht erfolgt einige Entwickelung
der Naturkräfte, obgleich mit einer Zerrüttung im Jn-
nern. Dieß führet doch zu einigen Folgen, die in der
Theodicee von Wichtigkeit sind. Die größte Stufen-
verschiedenheit unter den Menschen ist nun kein Grund
mehr zu schließen, daß der gütige Vater der Menschen
lieber sie gar nicht hätte werden, als so hätte werden las-
sen sollen, wie sie zum Theil sind. Eben dieselbige ist
nicht mehr so wichtig, daß man es mit dem Begriff
von seiner Güte unvereinbar finden sollte, daß nicht
mehrere und kräftigere Mittel von der Vorsehung veran-
staltet worden, als es wirklich in der Welt geschehen ist,
um diese Verschiedenheit zu heben.

Auch

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſehung durch die Einlenkung der Begebenheiten in der
Welt gewaͤhren kann, und hiebey auf die Abſicht und
Beſtimmung des Menſchengeſchlechts Ruͤckſicht nimmt:
ſo giebt die gedachte Gleichheit in der Ausbildung an
den weſentlichſten Stuͤcken einen Grund zu glauben,
„daß die Abſicht der Vorſehung bey allen in ſolcher
„Maße erreichet werde, daß das, was zuruͤckbleibet,
„keinen Zweifel gegen die goͤttliche Fuͤrſorge auch fuͤr
„die Elendſten der Erden gruͤnden kann.‟ Hier iſt es
ein merkwuͤrdiger Satz: „was wirklich bey allen errei-
„chet wird, iſt das weſentlichſte, und groͤßer und wich-
„tiger, als das, was nicht erreichet wird, und was ehe
„noch und leichter hinzukommen kann, als das erſtere,
„was bewirket iſt.‟ Hieraus koͤnnen freylich nicht alle
Fragen beantwortet werden, die man bey der allgemei-
nen Vorſehung aufgeworfen hat. Aber laßt uns anneh-
men, was man annehmen muß, daß die innere Ver-
vollkommnung des Geiſtes Einer der Hauptzwecke ſey,
warum Gott die menſchliche Seele in die gegenwaͤrtige
Verknuͤpfung geſetzt! Dieſer Zweck wird bey allen Jn-
dividuen in ſeinen weſentlichſten Stuͤcken erhalten.
Selbſt in dem Boͤſewicht erfolgt einige Entwickelung
der Naturkraͤfte, obgleich mit einer Zerruͤttung im Jn-
nern. Dieß fuͤhret doch zu einigen Folgen, die in der
Theodicee von Wichtigkeit ſind. Die groͤßte Stufen-
verſchiedenheit unter den Menſchen iſt nun kein Grund
mehr zu ſchließen, daß der guͤtige Vater der Menſchen
lieber ſie gar nicht haͤtte werden, als ſo haͤtte werden laſ-
ſen ſollen, wie ſie zum Theil ſind. Eben dieſelbige iſt
nicht mehr ſo wichtig, daß man es mit dem Begriff
von ſeiner Guͤte unvereinbar finden ſollte, daß nicht
mehrere und kraͤftigere Mittel von der Vorſehung veran-
ſtaltet worden, als es wirklich in der Welt geſchehen iſt,
um dieſe Verſchiedenheit zu heben.

Auch
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[688/0718] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſehung durch die Einlenkung der Begebenheiten in der Welt gewaͤhren kann, und hiebey auf die Abſicht und Beſtimmung des Menſchengeſchlechts Ruͤckſicht nimmt: ſo giebt die gedachte Gleichheit in der Ausbildung an den weſentlichſten Stuͤcken einen Grund zu glauben, „daß die Abſicht der Vorſehung bey allen in ſolcher „Maße erreichet werde, daß das, was zuruͤckbleibet, „keinen Zweifel gegen die goͤttliche Fuͤrſorge auch fuͤr „die Elendſten der Erden gruͤnden kann.‟ Hier iſt es ein merkwuͤrdiger Satz: „was wirklich bey allen errei- „chet wird, iſt das weſentlichſte, und groͤßer und wich- „tiger, als das, was nicht erreichet wird, und was ehe „noch und leichter hinzukommen kann, als das erſtere, „was bewirket iſt.‟ Hieraus koͤnnen freylich nicht alle Fragen beantwortet werden, die man bey der allgemei- nen Vorſehung aufgeworfen hat. Aber laßt uns anneh- men, was man annehmen muß, daß die innere Ver- vollkommnung des Geiſtes Einer der Hauptzwecke ſey, warum Gott die menſchliche Seele in die gegenwaͤrtige Verknuͤpfung geſetzt! Dieſer Zweck wird bey allen Jn- dividuen in ſeinen weſentlichſten Stuͤcken erhalten. Selbſt in dem Boͤſewicht erfolgt einige Entwickelung der Naturkraͤfte, obgleich mit einer Zerruͤttung im Jn- nern. Dieß fuͤhret doch zu einigen Folgen, die in der Theodicee von Wichtigkeit ſind. Die groͤßte Stufen- verſchiedenheit unter den Menſchen iſt nun kein Grund mehr zu ſchließen, daß der guͤtige Vater der Menſchen lieber ſie gar nicht haͤtte werden, als ſo haͤtte werden laſ- ſen ſollen, wie ſie zum Theil ſind. Eben dieſelbige iſt nicht mehr ſo wichtig, daß man es mit dem Begriff von ſeiner Guͤte unvereinbar finden ſollte, daß nicht mehrere und kraͤftigere Mittel von der Vorſehung veran- ſtaltet worden, als es wirklich in der Welt geſchehen iſt, um dieſe Verſchiedenheit zu heben. Auch

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/718>, abgerufen am 26.11.2024.