Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
ben von gleicher Größe; und diese Gleichheit
an ausgebildeter menschlicher Realität ist grös-
ser als die Ungleichheit, die bey denen, welche
auf der niedrigsten Stufe stehen, und denen, die
zu der höchsten gelangt sind, übrig bleibet.
Das
Menschengeschlecht ist als ein Wald aus Bäumen anzu-
sehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter
sind. Sie sind an Höhe und Dicke ungleich, aber nur
so, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra-
gen, da sie bis auf zehnmal soviel gleich sind. Es ist
keine Waldung von Bäumen und Gesträuchen verschie-
dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt
erheben, andere wie niedrige Gebüsche an der Erde krie-
chen. Wenigstens ist jenes erstere Gleichniß passender,
als dieß letztere.

3.

Bey den vollständig organifirten Kindern ist die
Gleichheit der Natur, im Verhältniß auf die zufäl-
lige Ungleichheit, noch größer, als die Gleichheit bey
den Entwickelten
im Verhältniß auf die Ungleich-
heit ist. Jene Gleichheit fällt aber weg, wenn Fehler
in der Organisation bey gewissen Jndividuen vorhanden
sind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht so
sehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder
dem andern von den äußern Sinnen fehlet. Dieser
Mangel auf der andern Seite kann durch eine größere
Schärfe in einem andern Sinne ersetzet seyn. Der
Blind - oder Taubgeborne ist von einer Seite weniger
Mensch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den-
noch bewies der junge Engländer, den Chelseden heilte,
einen so feinen natürlichen Verstand, daß man ihm viel-
leicht manche menschliche Realitäten zugestehen mußte,
die vielen Sehenden von seinem Alter fehlten. Dage-
gen ist Wahnsinn, Verrückung, Verstandlosigkeit, ein

mehr

und Entwickelung des Menſchen.
ben von gleicher Groͤße; und dieſe Gleichheit
an ausgebildeter menſchlicher Realitaͤt iſt groͤſ-
ſer als die Ungleichheit, die bey denen, welche
auf der niedrigſten Stufe ſtehen, und denen, die
zu der hoͤchſten gelangt ſind, uͤbrig bleibet.
Das
Menſchengeſchlecht iſt als ein Wald aus Baͤumen anzu-
ſehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter
ſind. Sie ſind an Hoͤhe und Dicke ungleich, aber nur
ſo, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra-
gen, da ſie bis auf zehnmal ſoviel gleich ſind. Es iſt
keine Waldung von Baͤumen und Geſtraͤuchen verſchie-
dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt
erheben, andere wie niedrige Gebuͤſche an der Erde krie-
chen. Wenigſtens iſt jenes erſtere Gleichniß paſſender,
als dieß letztere.

3.

Bey den vollſtaͤndig organifirten Kindern iſt die
Gleichheit der Natur, im Verhaͤltniß auf die zufaͤl-
lige Ungleichheit, noch groͤßer, als die Gleichheit bey
den Entwickelten
im Verhaͤltniß auf die Ungleich-
heit iſt. Jene Gleichheit faͤllt aber weg, wenn Fehler
in der Organiſation bey gewiſſen Jndividuen vorhanden
ſind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht ſo
ſehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder
dem andern von den aͤußern Sinnen fehlet. Dieſer
Mangel auf der andern Seite kann durch eine groͤßere
Schaͤrfe in einem andern Sinne erſetzet ſeyn. Der
Blind - oder Taubgeborne iſt von einer Seite weniger
Menſch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den-
noch bewies der junge Englaͤnder, den Chelſeden heilte,
einen ſo feinen natuͤrlichen Verſtand, daß man ihm viel-
leicht manche menſchliche Realitaͤten zugeſtehen mußte,
die vielen Sehenden von ſeinem Alter fehlten. Dage-
gen iſt Wahnſinn, Verruͤckung, Verſtandloſigkeit, ein

mehr
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0713" n="683"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">ben von gleicher Gro&#x0364;ße; und die&#x017F;e Gleichheit<lb/>
an ausgebildeter men&#x017F;chlicher Realita&#x0364;t i&#x017F;t gro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;er als die Ungleichheit, die bey denen, welche<lb/>
auf der niedrig&#x017F;ten Stufe &#x017F;tehen, und denen, die<lb/>
zu der ho&#x0364;ch&#x017F;ten gelangt &#x017F;ind, u&#x0364;brig bleibet.</hi> Das<lb/>
Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht i&#x017F;t als ein Wald aus Ba&#x0364;umen anzu-<lb/>
&#x017F;ehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter<lb/>
&#x017F;ind. Sie &#x017F;ind an Ho&#x0364;he und Dicke ungleich, aber nur<lb/>
&#x017F;o, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra-<lb/>
gen, da &#x017F;ie bis auf zehnmal &#x017F;oviel gleich &#x017F;ind. Es i&#x017F;t<lb/>
keine Waldung von Ba&#x0364;umen und Ge&#x017F;tra&#x0364;uchen ver&#x017F;chie-<lb/>
dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt<lb/>
erheben, andere wie niedrige Gebu&#x0364;&#x017F;che an der Erde krie-<lb/>
chen. Wenig&#x017F;tens i&#x017F;t jenes er&#x017F;tere Gleichniß pa&#x017F;&#x017F;ender,<lb/>
als dieß letztere.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>3.</head><lb/>
              <p>Bey den voll&#x017F;ta&#x0364;ndig organifirten Kindern i&#x017F;t die<lb/><hi rendition="#fr">Gleichheit der Natur,</hi> im Verha&#x0364;ltniß auf die zufa&#x0364;l-<lb/>
lige Ungleichheit, noch gro&#x0364;ßer, als die <hi rendition="#fr">Gleichheit bey<lb/>
den Entwickelten</hi> im Verha&#x0364;ltniß auf die Ungleich-<lb/>
heit i&#x017F;t. Jene Gleichheit fa&#x0364;llt aber weg, wenn Fehler<lb/>
in der Organi&#x017F;ation bey gewi&#x017F;&#x017F;en Jndividuen vorhanden<lb/>
&#x017F;ind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht &#x017F;o<lb/>
&#x017F;ehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder<lb/>
dem andern von den a&#x0364;ußern Sinnen fehlet. Die&#x017F;er<lb/>
Mangel auf der andern Seite kann durch eine gro&#x0364;ßere<lb/>
Scha&#x0364;rfe in einem andern Sinne er&#x017F;etzet &#x017F;eyn. Der<lb/>
Blind - oder Taubgeborne i&#x017F;t von einer Seite weniger<lb/>
Men&#x017F;ch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den-<lb/>
noch bewies der junge Engla&#x0364;nder, den Chel&#x017F;eden heilte,<lb/>
einen &#x017F;o feinen natu&#x0364;rlichen Ver&#x017F;tand, daß man ihm viel-<lb/>
leicht manche men&#x017F;chliche Realita&#x0364;ten zuge&#x017F;tehen mußte,<lb/>
die vielen Sehenden von &#x017F;einem Alter fehlten. Dage-<lb/>
gen i&#x017F;t Wahn&#x017F;inn, Verru&#x0364;ckung, Ver&#x017F;tandlo&#x017F;igkeit, ein<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mehr</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[683/0713] und Entwickelung des Menſchen. ben von gleicher Groͤße; und dieſe Gleichheit an ausgebildeter menſchlicher Realitaͤt iſt groͤſ- ſer als die Ungleichheit, die bey denen, welche auf der niedrigſten Stufe ſtehen, und denen, die zu der hoͤchſten gelangt ſind, uͤbrig bleibet. Das Menſchengeſchlecht iſt als ein Wald aus Baͤumen anzu- ſehen, die von gleicher Gattung und von gleichem Alter ſind. Sie ſind an Hoͤhe und Dicke ungleich, aber nur ſo, daß einige mit ihrem Gipfel einige Fuß hervorra- gen, da ſie bis auf zehnmal ſoviel gleich ſind. Es iſt keine Waldung von Baͤumen und Geſtraͤuchen verſchie- dener Gattungen, deren einige wie Cedern ihr Haupt erheben, andere wie niedrige Gebuͤſche an der Erde krie- chen. Wenigſtens iſt jenes erſtere Gleichniß paſſender, als dieß letztere. 3. Bey den vollſtaͤndig organifirten Kindern iſt die Gleichheit der Natur, im Verhaͤltniß auf die zufaͤl- lige Ungleichheit, noch groͤßer, als die Gleichheit bey den Entwickelten im Verhaͤltniß auf die Ungleich- heit iſt. Jene Gleichheit faͤllt aber weg, wenn Fehler in der Organiſation bey gewiſſen Jndividuen vorhanden ſind. Dadurch leidet die Gleichheit eben noch nicht ſo ſehr, wenn es etwa einem Jndividuum an einem oder dem andern von den aͤußern Sinnen fehlet. Dieſer Mangel auf der andern Seite kann durch eine groͤßere Schaͤrfe in einem andern Sinne erſetzet ſeyn. Der Blind - oder Taubgeborne iſt von einer Seite weniger Menſch als ein anderer, der alle Sinne hat. Den- noch bewies der junge Englaͤnder, den Chelſeden heilte, einen ſo feinen natuͤrlichen Verſtand, daß man ihm viel- leicht manche menſchliche Realitaͤten zugeſtehen mußte, die vielen Sehenden von ſeinem Alter fehlten. Dage- gen iſt Wahnſinn, Verruͤckung, Verſtandloſigkeit, ein mehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/713
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 683. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/713>, abgerufen am 23.11.2024.