Die Wagschale sey durch ein Uebergewicht an ei- ner Seite nach dieser hin heruntergeneigt. Leget man noch ein stärkeres Gewicht in die gegenseitige Schale, so steiget jene wiederum in die Höhe, und diese letztere mehr beschwerte sinkt herunter. Als die Wage auf die erstere Art durch das Uebergewicht sich bewegte, besaß sie die Receptivitär, durch eine Vergrößerung des Gegengewichts an der andern Seite wieder in den Gleichstand zu kommen, und nach der Gegenseite hin bewegt zu werden. Machte dieß ihr passives Ver- mögen anders bestimmt zu werden, als sie es war, die Wage zu einem freyen seiner selbst mächtigen Wesen?
Wenn mein Hund mit mir aufs Feld gehet, und nun hinter einer Krähe herstreichet, und ich ihn laut und mit dem Stock drohend zurückrufe, so hält er mit- ten im Lauf inne, und begiebt sich zu meinen Füßen. Dieß Thier besaß also während des Laufs, wozu es sei- ne Begierde trieb, eine Gelenksamkeit, auf meine Stimme und auf meinen Stock aufmerksam zu werden. Durch die Empfindungen, die daraus entstehen, konnte die bewegende Kraft seiner Muskeln anders gelenkt wer- den, als sie wirklich vorher bestimmt war. Hat der Hund deswegen mit Selbstmacht über sich und mit Freyheit gehandelt, als er auf die erstere Art fortlief? Wir Menschen befinden uns zu oft in ähnlichen Um- ständen, wenn uns Leidenschaften hinreißen, als daß unser Selbstgefühl uns nicht sagen sollte, daß diese Fra- ge zu verneinen sey. Soll ich mit Freyheit handeln, so soll ich aus mir selbst vermögend seyn, mich zu be- stimmen, nicht aber bloß aufgelegt seyn, mich leidend bestimmen zu lassen.
VII. Von
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Die Wagſchale ſey durch ein Uebergewicht an ei- ner Seite nach dieſer hin heruntergeneigt. Leget man noch ein ſtaͤrkeres Gewicht in die gegenſeitige Schale, ſo ſteiget jene wiederum in die Hoͤhe, und dieſe letztere mehr beſchwerte ſinkt herunter. Als die Wage auf die erſtere Art durch das Uebergewicht ſich bewegte, beſaß ſie die Receptivitaͤr, durch eine Vergroͤßerung des Gegengewichts an der andern Seite wieder in den Gleichſtand zu kommen, und nach der Gegenſeite hin bewegt zu werden. Machte dieß ihr paſſives Ver- moͤgen anders beſtimmt zu werden, als ſie es war, die Wage zu einem freyen ſeiner ſelbſt maͤchtigen Weſen?
Wenn mein Hund mit mir aufs Feld gehet, und nun hinter einer Kraͤhe herſtreichet, und ich ihn laut und mit dem Stock drohend zuruͤckrufe, ſo haͤlt er mit- ten im Lauf inne, und begiebt ſich zu meinen Fuͤßen. Dieß Thier beſaß alſo waͤhrend des Laufs, wozu es ſei- ne Begierde trieb, eine Gelenkſamkeit, auf meine Stimme und auf meinen Stock aufmerkſam zu werden. Durch die Empfindungen, die daraus entſtehen, konnte die bewegende Kraft ſeiner Muskeln anders gelenkt wer- den, als ſie wirklich vorher beſtimmt war. Hat der Hund deswegen mit Selbſtmacht uͤber ſich und mit Freyheit gehandelt, als er auf die erſtere Art fortlief? Wir Menſchen befinden uns zu oft in aͤhnlichen Um- ſtaͤnden, wenn uns Leidenſchaften hinreißen, als daß unſer Selbſtgefuͤhl uns nicht ſagen ſollte, daß dieſe Fra- ge zu verneinen ſey. Soll ich mit Freyheit handeln, ſo ſoll ich aus mir ſelbſt vermoͤgend ſeyn, mich zu be- ſtimmen, nicht aber bloß aufgelegt ſeyn, mich leidend beſtimmen zu laſſen.
VII. Von
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Die Wagſchale ſey durch ein Uebergewicht an ei-
ner Seite nach dieſer hin heruntergeneigt. Leget man
noch ein ſtaͤrkeres Gewicht in die gegenſeitige Schale,
ſo ſteiget jene wiederum in die Hoͤhe, und dieſe letztere
mehr beſchwerte ſinkt herunter. Als die Wage auf die
erſtere Art durch das Uebergewicht ſich bewegte, beſaß
ſie die Receptivitaͤr, durch eine Vergroͤßerung des
Gegengewichts an der andern Seite wieder in den
Gleichſtand zu kommen, und nach der Gegenſeite hin
bewegt zu werden. Machte dieß ihr paſſives Ver-
moͤgen anders beſtimmt zu werden, als ſie es war, die
Wage zu einem freyen ſeiner ſelbſt maͤchtigen Weſen?
Wenn mein Hund mit mir aufs Feld gehet, und
nun hinter einer Kraͤhe herſtreichet, und ich ihn laut
und mit dem Stock drohend zuruͤckrufe, ſo haͤlt er mit-
ten im Lauf inne, und begiebt ſich zu meinen Fuͤßen.
Dieß Thier beſaß alſo waͤhrend des Laufs, wozu es ſei-
ne Begierde trieb, eine Gelenkſamkeit, auf meine
Stimme und auf meinen Stock aufmerkſam zu werden.
Durch die Empfindungen, die daraus entſtehen, konnte
die bewegende Kraft ſeiner Muskeln anders gelenkt wer-
den, als ſie wirklich vorher beſtimmt war. Hat der
Hund deswegen mit Selbſtmacht uͤber ſich und mit
Freyheit gehandelt, als er auf die erſtere Art fortlief?
Wir Menſchen befinden uns zu oft in aͤhnlichen Um-
ſtaͤnden, wenn uns Leidenſchaften hinreißen, als daß
unſer Selbſtgefuͤhl uns nicht ſagen ſollte, daß dieſe Fra-
ge zu verneinen ſey. Soll ich mit Freyheit handeln,
ſo ſoll ich aus mir ſelbſt vermoͤgend ſeyn, mich zu be-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/70>, abgerufen am 24.11.2024.
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