Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. Aberglauben durch zufällige Verbindungen eine höhereEntwickelung der Seele und Geisteserhebung und Zu- friedenheit hervorgebracht. Es giebt trostreiche Jrrthü- mer, in der Maße, wie es die Wahrheit an ihrer Stel- le nicht gewesen wäre. Jch fürchte nicht, daß ein nach- denkender Leser dieß, was ich hierüber gesagt habe, miß- deuten werde. Der Werth der Wahrheit ist unschätz- bar, und bey einigen unendlich groß. Aber sie besitzet für sich allein keine magische Kraft, den Menschen bes- ser oder glücklicher zu machen. Was sie thut, wirket sie durch ihre Folgen. Sie kann ihn glücklicher machen, ohne ihn besser zu machen. Spinoza war kein unvoll- kommnerer Mensch durch seinen Jrrthum, als seine Gegner, die ihn widerlegten. Allein er war ein un- glücklicher Mensch, insofern er der Zufriedenheit, des Trostes und der erhabenen Freude beraubt war, die aus dem ersten, größten und gewissesten Grundsatz der Religion entspringet. Ohne diese kann der Nachden- kende nicht glücklich seyn. Die Würde der Wahrheit muß so wenig heruntergesetzet werden, daß vielmehr die kleinste Berichtigung der Kenntnisse zu schätzen ist, weil die an sich unerheblich scheinende Wahrheit in Ver- bindung mit großen Entdeckungen oft sehr nahe stehet. Aber es muß die Wahrheit, insofern sie Erkenntniß ist, von der Wahrheit, so fern sie eine richtige Erkennt- niß ist, unterschieden werden. Die Fruchtbarkeit der Erkenntniß und ihre Brauchbarkeit kann sie haben, in sofern sie in Vorstellungen und Gedanken bestehet, wenn solche gleich unrichtig sind. Als Wahrheit hat sie et- was, das sie brauchbar macht, was sie als Jrrthum nicht hat. Dieß, aber auch dieß nur, macht ihren absoluten Vorzug vor dem Jrrthum aus. Das ist es, was ich hier behaupte. Da wo sie nicht gebraucht wird, wie in trägen oder einfältigen Menschen, die nicht über- legen noch vergleichen, was über die rohen sinnlichen Jdeen
und Entwickelung des Menſchen. Aberglauben durch zufaͤllige Verbindungen eine hoͤhereEntwickelung der Seele und Geiſteserhebung und Zu- friedenheit hervorgebracht. Es giebt troſtreiche Jrrthuͤ- mer, in der Maße, wie es die Wahrheit an ihrer Stel- le nicht geweſen waͤre. Jch fuͤrchte nicht, daß ein nach- denkender Leſer dieß, was ich hieruͤber geſagt habe, miß- deuten werde. Der Werth der Wahrheit iſt unſchaͤtz- bar, und bey einigen unendlich groß. Aber ſie beſitzet fuͤr ſich allein keine magiſche Kraft, den Menſchen beſ- ſer oder gluͤcklicher zu machen. Was ſie thut, wirket ſie durch ihre Folgen. Sie kann ihn gluͤcklicher machen, ohne ihn beſſer zu machen. Spinoza war kein unvoll- kommnerer Menſch durch ſeinen Jrrthum, als ſeine Gegner, die ihn widerlegten. Allein er war ein un- gluͤcklicher Menſch, inſofern er der Zufriedenheit, des Troſtes und der erhabenen Freude beraubt war, die aus dem erſten, groͤßten und gewiſſeſten Grundſatz der Religion entſpringet. Ohne dieſe kann der Nachden- kende nicht gluͤcklich ſeyn. Die Wuͤrde der Wahrheit muß ſo wenig heruntergeſetzet werden, daß vielmehr die kleinſte Berichtigung der Kenntniſſe zu ſchaͤtzen iſt, weil die an ſich unerheblich ſcheinende Wahrheit in Ver- bindung mit großen Entdeckungen oft ſehr nahe ſtehet. Aber es muß die Wahrheit, inſofern ſie Erkenntniß iſt, von der Wahrheit, ſo fern ſie eine richtige Erkennt- niß iſt, unterſchieden werden. Die Fruchtbarkeit der Erkenntniß und ihre Brauchbarkeit kann ſie haben, in ſofern ſie in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet, wenn ſolche gleich unrichtig ſind. Als Wahrheit hat ſie et- was, das ſie brauchbar macht, was ſie als Jrrthum nicht hat. Dieß, aber auch dieß nur, macht ihren abſoluten Vorzug vor dem Jrrthum aus. Das iſt es, was ich hier behaupte. Da wo ſie nicht gebraucht wird, wie in traͤgen oder einfaͤltigen Menſchen, die nicht uͤber- legen noch vergleichen, was uͤber die rohen ſinnlichen Jdeen
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friedenheit hervorgebracht. Es giebt troſtreiche Jrrthuͤ-
mer, in der Maße, wie es die Wahrheit an ihrer Stel-
le nicht geweſen waͤre. Jch fuͤrchte nicht, daß ein nach-
denkender Leſer dieß, was ich hieruͤber geſagt habe, miß-
deuten werde. Der Werth der Wahrheit iſt unſchaͤtz-
bar, und bey einigen unendlich groß. Aber ſie beſitzet
fuͤr ſich allein keine magiſche Kraft, den Menſchen beſ-
ſer oder gluͤcklicher zu machen. Was ſie thut, wirket
ſie durch ihre Folgen. Sie kann ihn gluͤcklicher machen,
ohne ihn beſſer zu machen. Spinoza war kein unvoll-
kommnerer Menſch durch ſeinen Jrrthum, als ſeine
Gegner, die ihn widerlegten. Allein er war ein un-
gluͤcklicher Menſch, inſofern er der Zufriedenheit, des
Troſtes und der erhabenen Freude beraubt war, die
aus dem erſten, groͤßten und gewiſſeſten Grundſatz der
Religion entſpringet. Ohne dieſe kann der Nachden-
kende nicht gluͤcklich ſeyn. Die Wuͤrde der Wahrheit
muß ſo wenig heruntergeſetzet werden, daß vielmehr die
kleinſte Berichtigung der Kenntniſſe zu ſchaͤtzen iſt,
weil die an ſich unerheblich ſcheinende Wahrheit in Ver-
bindung mit großen Entdeckungen oft ſehr nahe ſtehet.
Aber es muß die Wahrheit, inſofern ſie Erkenntniß iſt,
von der Wahrheit, ſo fern ſie eine richtige Erkennt-
niß iſt, unterſchieden werden. Die Fruchtbarkeit der
Erkenntniß und ihre Brauchbarkeit kann ſie haben, in
ſofern ſie in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet, wenn
ſolche gleich unrichtig ſind. Als Wahrheit hat ſie et-
was, das ſie brauchbar macht, was ſie als Jrrthum
nicht hat. Dieß, aber auch dieß nur, macht ihren
abſoluten Vorzug vor dem Jrrthum aus. Das iſt es,
was ich hier behaupte. Da wo ſie nicht gebraucht wird,
wie in traͤgen oder einfaͤltigen Menſchen, die nicht uͤber-
legen noch vergleichen, was uͤber die rohen ſinnlichen
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