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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität

Wenn dieß überhaupt die Wirkung der Kenntniß
auf den Menschen ist, was hat denn die wahre vor der
falschen voraus? Was hat der Verstand oder das
Herz der neuern Astronomen, die sich das Weltgebäude
nach dem richtigern kopernikanischen System vorstellen,
vor dem Kopf und dem Herzen der Alten voraus, die
noch die Erde zum Mittelpunkt machten, und die Son-
ne um jene laufen ließen? Jn dem Verstande des ei-
nen ist eine Modifikation, wie in dem Verstande des an-
dern. Jst dieser Unterschied aber mehr als eine Ver-
schiedenheit in dem Gepräge zwoer Münzen, deren
innerer Werth dadurch weder größer noch kleiner wird?

Jst der innere Umfang, die Stärke, die Deutlich-
keit, die Lebhaftigkeit, die Tiefe, bey einer wahren und
falschen Jdee, bey einem richtigen und unrichtigen Ur-
theil, von gleicher Größe: so hat doch der wahre Ge-
danke, bloß in Rücksicht auf den Verstand betrachtet, an
sich so viel vor dem falschen voraus, daß er den künfti-
gen Anwachs wahrer Einsichten erleichtert, und dadurch
zu einer Quelle von angenehmen Empfindungen wird,
die aus der Uebereinstimmung der Vorstellungen ent-
springet. Jndessen kann im übrigen der eine so viele
Beschäfftigung und Nahrung für den Verstand erhal-
ten, als der andere. Der Vorzug ist, alles übrige auf
beiden Seiten gleich genommen, und den Einfluß aufs
Herz und auf die Handlungen bey Seite gesetzet, ohne
Zweifel auf der Seite der Wahrheit. Wenn auch
gleich ein Jrrthum zu neuen Jrrthümern, also zu neuen
Gedanken, leitet, wie eine Wahrheit zu neuen Wahrhei-
ten: so ist es doch am Ende ein unabänderliches Schick-
sal des Jrrthums, daß er in Widersprüche mit sich selbst
geräth, wenn anders der Verstand in seinen Kenntnis-
sen fortgehet. Dieß verursachet Verdruß, der mit der
Wahrnehmung des Widerspruchs und mit dem Be-
wußtseyn, daß man sich geirret habe, verbunden ist.

Jndessen
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Wenn dieß uͤberhaupt die Wirkung der Kenntniß
auf den Menſchen iſt, was hat denn die wahre vor der
falſchen voraus? Was hat der Verſtand oder das
Herz der neuern Aſtronomen, die ſich das Weltgebaͤude
nach dem richtigern kopernikaniſchen Syſtem vorſtellen,
vor dem Kopf und dem Herzen der Alten voraus, die
noch die Erde zum Mittelpunkt machten, und die Son-
ne um jene laufen ließen? Jn dem Verſtande des ei-
nen iſt eine Modifikation, wie in dem Verſtande des an-
dern. Jſt dieſer Unterſchied aber mehr als eine Ver-
ſchiedenheit in dem Gepraͤge zwoer Muͤnzen, deren
innerer Werth dadurch weder groͤßer noch kleiner wird?

Jſt der innere Umfang, die Staͤrke, die Deutlich-
keit, die Lebhaftigkeit, die Tiefe, bey einer wahren und
falſchen Jdee, bey einem richtigen und unrichtigen Ur-
theil, von gleicher Groͤße: ſo hat doch der wahre Ge-
danke, bloß in Ruͤckſicht auf den Verſtand betrachtet, an
ſich ſo viel vor dem falſchen voraus, daß er den kuͤnfti-
gen Anwachs wahrer Einſichten erleichtert, und dadurch
zu einer Quelle von angenehmen Empfindungen wird,
die aus der Uebereinſtimmung der Vorſtellungen ent-
ſpringet. Jndeſſen kann im uͤbrigen der eine ſo viele
Beſchaͤfftigung und Nahrung fuͤr den Verſtand erhal-
ten, als der andere. Der Vorzug iſt, alles uͤbrige auf
beiden Seiten gleich genommen, und den Einfluß aufs
Herz und auf die Handlungen bey Seite geſetzet, ohne
Zweifel auf der Seite der Wahrheit. Wenn auch
gleich ein Jrrthum zu neuen Jrrthuͤmern, alſo zu neuen
Gedanken, leitet, wie eine Wahrheit zu neuen Wahrhei-
ten: ſo iſt es doch am Ende ein unabaͤnderliches Schick-
ſal des Jrrthums, daß er in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt
geraͤth, wenn anders der Verſtand in ſeinen Kenntniſ-
ſen fortgehet. Dieß verurſachet Verdruß, der mit der
Wahrnehmung des Widerſpruchs und mit dem Be-
wußtſeyn, daß man ſich geirret habe, verbunden iſt.

Jndeſſen
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[664/0694] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Wenn dieß uͤberhaupt die Wirkung der Kenntniß auf den Menſchen iſt, was hat denn die wahre vor der falſchen voraus? Was hat der Verſtand oder das Herz der neuern Aſtronomen, die ſich das Weltgebaͤude nach dem richtigern kopernikaniſchen Syſtem vorſtellen, vor dem Kopf und dem Herzen der Alten voraus, die noch die Erde zum Mittelpunkt machten, und die Son- ne um jene laufen ließen? Jn dem Verſtande des ei- nen iſt eine Modifikation, wie in dem Verſtande des an- dern. Jſt dieſer Unterſchied aber mehr als eine Ver- ſchiedenheit in dem Gepraͤge zwoer Muͤnzen, deren innerer Werth dadurch weder groͤßer noch kleiner wird? Jſt der innere Umfang, die Staͤrke, die Deutlich- keit, die Lebhaftigkeit, die Tiefe, bey einer wahren und falſchen Jdee, bey einem richtigen und unrichtigen Ur- theil, von gleicher Groͤße: ſo hat doch der wahre Ge- danke, bloß in Ruͤckſicht auf den Verſtand betrachtet, an ſich ſo viel vor dem falſchen voraus, daß er den kuͤnfti- gen Anwachs wahrer Einſichten erleichtert, und dadurch zu einer Quelle von angenehmen Empfindungen wird, die aus der Uebereinſtimmung der Vorſtellungen ent- ſpringet. Jndeſſen kann im uͤbrigen der eine ſo viele Beſchaͤfftigung und Nahrung fuͤr den Verſtand erhal- ten, als der andere. Der Vorzug iſt, alles uͤbrige auf beiden Seiten gleich genommen, und den Einfluß aufs Herz und auf die Handlungen bey Seite geſetzet, ohne Zweifel auf der Seite der Wahrheit. Wenn auch gleich ein Jrrthum zu neuen Jrrthuͤmern, alſo zu neuen Gedanken, leitet, wie eine Wahrheit zu neuen Wahrhei- ten: ſo iſt es doch am Ende ein unabaͤnderliches Schick- ſal des Jrrthums, daß er in Widerſpruͤche mit ſich ſelbſt geraͤth, wenn anders der Verſtand in ſeinen Kenntniſ- ſen fortgehet. Dieß verurſachet Verdruß, der mit der Wahrnehmung des Widerſpruchs und mit dem Be- wußtſeyn, daß man ſich geirret habe, verbunden iſt. Jndeſſen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 664. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/694>, abgerufen am 27.11.2024.