nigen Ebenmaß erhöhet werden, wodurch der Einfluß von jedem einzeln auf das Ganze der Seelenkraft am größten wird. Es ist nie zu vergessen, was der Mensch ist. Er ist nicht bloß ein empfindendes Wesen; nicht bloß ein phantasirendes Wesen; nicht bloß ein nachden- kendes, nicht bloß ein äußerlich thätiges Wesen; nicht Geist allein, nicht Thier, noch weniger Körper allein: sondern ein Mensch.
Dagegen würde die künstliche Erziehung auch auf der andern Seite zu viel thun, wenn aus dem Grund- satze, daß der Mensch an allen Seiten gleichförmig aus- gebildet werden müsse, die Absicht dahin gerichtet wür- de, ihm alle Arten von Geschicklichkeiten in gleichem Grade zu verschaffen und ihn zurückzuhalten, wenn man fände, daß er Eine derselbigen sich vorzüglich zu er- werben geneigt sey. Man kann es nicht tadeln, son- dern muß es als eine Verbesserung der Erziehung anse- hen, daß man nicht bloß die Seele und den Verstand, sondern auch die Sinne und den Körper, bey der Ju- gend zu bilden sucht. Es ist ohne Zweifel ein richtigerer Grundsatz, daß man sie von allen Seiten angreifen und bearbeiten müsse, als wenn lauter Crichtons*) aus ih- nen gemacht werden sollten. Aber nachher ist es nicht
mehr
*)Joseph Criton, oder eigentlich Crichton, ein Schott- länder, war ein außerordentliches Wunder von menschli- cher Vollkommenheit, im sechszehnten Jahrhundert; ein allgemeines Genie, nicht nur in Hinsicht aller See- lenfähigkeiten, sondern auch in allen körperlichen Ge- schicklichkeiten, im Fechten, Reiten, Tanzen; und fast ein realisirtes Jdeal des vollkommensten Menschen. Man sehe die Dedikation des Aldus Manutius von seiner Aus- gabe der Paradoxen des Cicero; imgleichen Moreri in s. Wörterbuch. Ohne Zweifel ist in der Erzählung etwas übertrieben. Jndessen erhellet soviel, daß Crichton ein außerordentlicher und an allen Seiten ausgebildeter Mensch gewesen sey.
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nigen Ebenmaß erhoͤhet werden, wodurch der Einfluß von jedem einzeln auf das Ganze der Seelenkraft am groͤßten wird. Es iſt nie zu vergeſſen, was der Menſch iſt. Er iſt nicht bloß ein empfindendes Weſen; nicht bloß ein phantaſirendes Weſen; nicht bloß ein nachden- kendes, nicht bloß ein aͤußerlich thaͤtiges Weſen; nicht Geiſt allein, nicht Thier, noch weniger Koͤrper allein: ſondern ein Menſch.
Dagegen wuͤrde die kuͤnſtliche Erziehung auch auf der andern Seite zu viel thun, wenn aus dem Grund- ſatze, daß der Menſch an allen Seiten gleichfoͤrmig aus- gebildet werden muͤſſe, die Abſicht dahin gerichtet wuͤr- de, ihm alle Arten von Geſchicklichkeiten in gleichem Grade zu verſchaffen und ihn zuruͤckzuhalten, wenn man faͤnde, daß er Eine derſelbigen ſich vorzuͤglich zu er- werben geneigt ſey. Man kann es nicht tadeln, ſon- dern muß es als eine Verbeſſerung der Erziehung anſe- hen, daß man nicht bloß die Seele und den Verſtand, ſondern auch die Sinne und den Koͤrper, bey der Ju- gend zu bilden ſucht. Es iſt ohne Zweifel ein richtigerer Grundſatz, daß man ſie von allen Seiten angreifen und bearbeiten muͤſſe, als wenn lauter Crichtons*) aus ih- nen gemacht werden ſollten. Aber nachher iſt es nicht
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*)Joſeph Criton, oder eigentlich Crichton, ein Schott- laͤnder, war ein außerordentliches Wunder von menſchli- cher Vollkommenheit, im ſechszehnten Jahrhundert; ein allgemeines Genie, nicht nur in Hinſicht aller See- lenfaͤhigkeiten, ſondern auch in allen koͤrperlichen Ge- ſchicklichkeiten, im Fechten, Reiten, Tanzen; und faſt ein realiſirtes Jdeal des vollkommenſten Menſchen. Man ſehe die Dedikation des Aldus Manutius von ſeiner Aus- gabe der Paradoxen des Cicero; imgleichen Moreri in ſ. Woͤrterbuch. Ohne Zweifel iſt in der Erzaͤhlung etwas uͤbertrieben. Jndeſſen erhellet ſoviel, daß Crichton ein außerordentlicher und an allen Seiten ausgebildeter Menſch geweſen ſey.
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nigen Ebenmaß erhoͤhet werden, wodurch der Einfluß
von jedem einzeln auf das Ganze der Seelenkraft am
groͤßten wird. Es iſt nie zu vergeſſen, was der Menſch
iſt. Er iſt nicht bloß ein empfindendes Weſen; nicht
bloß ein phantaſirendes Weſen; nicht bloß ein nachden-
kendes, nicht bloß ein aͤußerlich thaͤtiges Weſen; nicht
Geiſt allein, nicht Thier, noch weniger Koͤrper allein:
ſondern ein Menſch.
Dagegen wuͤrde die kuͤnſtliche Erziehung auch auf
der andern Seite zu viel thun, wenn aus dem Grund-
ſatze, daß der Menſch an allen Seiten gleichfoͤrmig aus-
gebildet werden muͤſſe, die Abſicht dahin gerichtet wuͤr-
de, ihm alle Arten von Geſchicklichkeiten in gleichem
Grade zu verſchaffen und ihn zuruͤckzuhalten, wenn
man faͤnde, daß er Eine derſelbigen ſich vorzuͤglich zu er-
werben geneigt ſey. Man kann es nicht tadeln, ſon-
dern muß es als eine Verbeſſerung der Erziehung anſe-
hen, daß man nicht bloß die Seele und den Verſtand,
ſondern auch die Sinne und den Koͤrper, bey der Ju-
gend zu bilden ſucht. Es iſt ohne Zweifel ein richtigerer
Grundſatz, daß man ſie von allen Seiten angreifen und
bearbeiten muͤſſe, als wenn lauter Crichtons *) aus ih-
nen gemacht werden ſollten. Aber nachher iſt es nicht
mehr
*) Joſeph Criton, oder eigentlich Crichton, ein Schott-
laͤnder, war ein außerordentliches Wunder von menſchli-
cher Vollkommenheit, im ſechszehnten Jahrhundert;
ein allgemeines Genie, nicht nur in Hinſicht aller See-
lenfaͤhigkeiten, ſondern auch in allen koͤrperlichen Ge-
ſchicklichkeiten, im Fechten, Reiten, Tanzen; und faſt
ein realiſirtes Jdeal des vollkommenſten Menſchen. Man
ſehe die Dedikation des Aldus Manutius von ſeiner Aus-
gabe der Paradoxen des Cicero; imgleichen Moreri in ſ.
Woͤrterbuch. Ohne Zweifel iſt in der Erzaͤhlung etwas
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/660>, abgerufen am 22.11.2024.
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