Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
che und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur
allzu bekannt ist. Und diese ist nicht nur ein Mangel
einer großen Vollkommenheit, sondern wird auch wie-
derum selbst dem Vermögen zum Nachdenken schädlich.
"Jede übertriebene Kraft verdirbt sich selbst." Wer
zu viel lieset, -- es ist dieß eine bekannte Erfahrung, --
und mehr Bilder und Begriffe ins Gedächtniß häufet,
als die Ueberlegungskraft in Ordnung setzen kann, brin-
get in dem Gehirn einen Zustand hervor, den man in
dem Körper Ueberladung nennet. Die übermäßige Be-
schäfftigung der Einbildungskraft ist, weder für den Ver-
stand, noch für das Gedächtniß vortheilhaft, noch we-
niger für die Einsichten. Hat man bey besondern Ver-
anlassungen einmal zu viel und zu anhaltend gelesen, so
ist man genöthiget eine Zeit nachher gar nichts zu lesen,
bis man fühlet, daß der gehörige Ton des Gehirns wie-
der hergestellet sey.

Die übertriebene einseitige Vervollkommnung des
Gefühls und der Empfindsamkeit ist nicht minder
schädlich. Wer kann dieß schöner und richtiger sagen,
als es Hr. Sulzer gesagt hat?*) Allzu empfindliche
Personen lassen sich von jedem Verdruß und von jeder
Freude zu lebhaft erschüttern, und verrathen sowohl eine
Schwäche am Verstande, als an Thätigkeit des Willens.

Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun-
gen können unproportionirlich stark gespannt seyn? Gemei-
niglich sieht man die Neigungen, die Entschlüsse und Hand-
lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal-
lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgründe,
die den letztern als ihren Ursachen entsprechen, und sich
also in ihrer Stärke nach den vorhergehenden Gemüths-
bewegungen richten sollen. Allein man hat aus vielen

Grün-
*) Jn seinem bekannten Wörterbuch; Art. Empfind-
samkeit.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
che und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur
allzu bekannt iſt. Und dieſe iſt nicht nur ein Mangel
einer großen Vollkommenheit, ſondern wird auch wie-
derum ſelbſt dem Vermoͤgen zum Nachdenken ſchaͤdlich.
„Jede uͤbertriebene Kraft verdirbt ſich ſelbſt.‟ Wer
zu viel lieſet, — es iſt dieß eine bekannte Erfahrung, —
und mehr Bilder und Begriffe ins Gedaͤchtniß haͤufet,
als die Ueberlegungskraft in Ordnung ſetzen kann, brin-
get in dem Gehirn einen Zuſtand hervor, den man in
dem Koͤrper Ueberladung nennet. Die uͤbermaͤßige Be-
ſchaͤfftigung der Einbildungskraft iſt, weder fuͤr den Ver-
ſtand, noch fuͤr das Gedaͤchtniß vortheilhaft, noch we-
niger fuͤr die Einſichten. Hat man bey beſondern Ver-
anlaſſungen einmal zu viel und zu anhaltend geleſen, ſo
iſt man genoͤthiget eine Zeit nachher gar nichts zu leſen,
bis man fuͤhlet, daß der gehoͤrige Ton des Gehirns wie-
der hergeſtellet ſey.

Die uͤbertriebene einſeitige Vervollkommnung des
Gefuͤhls und der Empfindſamkeit iſt nicht minder
ſchaͤdlich. Wer kann dieß ſchoͤner und richtiger ſagen,
als es Hr. Sulzer geſagt hat?*) Allzu empfindliche
Perſonen laſſen ſich von jedem Verdruß und von jeder
Freude zu lebhaft erſchuͤttern, und verrathen ſowohl eine
Schwaͤche am Verſtande, als an Thaͤtigkeit des Willens.

Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun-
gen koͤnnen unproportionirlich ſtark geſpannt ſeyn? Gemei-
niglich ſieht man die Neigungen, die Entſchluͤſſe und Hand-
lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal-
lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgruͤnde,
die den letztern als ihren Urſachen entſprechen, und ſich
alſo in ihrer Staͤrke nach den vorhergehenden Gemuͤths-
bewegungen richten ſollen. Allein man hat aus vielen

Gruͤn-
*) Jn ſeinem bekannten Woͤrterbuch; Art. Empfind-
ſamkeit.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0656" n="626"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
che und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur<lb/>
allzu bekannt i&#x017F;t. Und die&#x017F;e i&#x017F;t nicht nur ein Mangel<lb/>
einer großen Vollkommenheit, &#x017F;ondern wird auch wie-<lb/>
derum &#x017F;elb&#x017F;t dem Vermo&#x0364;gen zum Nachdenken &#x017F;cha&#x0364;dlich.<lb/>
&#x201E;Jede u&#x0364;bertriebene Kraft verdirbt &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t.&#x201F; Wer<lb/>
zu viel lie&#x017F;et, &#x2014; es i&#x017F;t dieß eine bekannte Erfahrung, &#x2014;<lb/>
und mehr Bilder und Begriffe ins Geda&#x0364;chtniß ha&#x0364;ufet,<lb/>
als die Ueberlegungskraft in Ordnung &#x017F;etzen kann, brin-<lb/>
get in dem Gehirn einen Zu&#x017F;tand hervor, den man in<lb/>
dem Ko&#x0364;rper Ueberladung nennet. Die u&#x0364;berma&#x0364;ßige Be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;fftigung der Einbildungskraft i&#x017F;t, weder fu&#x0364;r den Ver-<lb/>
&#x017F;tand, noch fu&#x0364;r das Geda&#x0364;chtniß vortheilhaft, noch we-<lb/>
niger fu&#x0364;r die Ein&#x017F;ichten. Hat man bey be&#x017F;ondern Ver-<lb/>
anla&#x017F;&#x017F;ungen einmal zu viel und zu anhaltend gele&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
i&#x017F;t man geno&#x0364;thiget eine Zeit nachher gar nichts zu le&#x017F;en,<lb/>
bis man fu&#x0364;hlet, daß der geho&#x0364;rige Ton des Gehirns wie-<lb/>
der herge&#x017F;tellet &#x017F;ey.</p><lb/>
              <p>Die u&#x0364;bertriebene ein&#x017F;eitige Vervollkommnung des<lb/><hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hls</hi> und der <hi rendition="#fr">Empfind&#x017F;amkeit</hi> i&#x017F;t nicht minder<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;dlich. Wer kann dieß &#x017F;cho&#x0364;ner und richtiger &#x017F;agen,<lb/>
als es Hr. <hi rendition="#fr">Sulzer</hi> ge&#x017F;agt hat?<note place="foot" n="*)"> Jn &#x017F;einem bekannten Wo&#x0364;rterbuch; Art. <hi rendition="#fr">Empfind-<lb/>
&#x017F;amkeit.</hi></note> Allzu empfindliche<lb/>
Per&#x017F;onen la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich von jedem Verdruß und von jeder<lb/>
Freude zu lebhaft er&#x017F;chu&#x0364;ttern, und verrathen &#x017F;owohl eine<lb/>
Schwa&#x0364;che am Ver&#x017F;tande, als an Tha&#x0364;tigkeit des Willens.</p><lb/>
              <p>Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun-<lb/>
gen ko&#x0364;nnen unproportionirlich &#x017F;tark ge&#x017F;pannt &#x017F;eyn? Gemei-<lb/>
niglich &#x017F;ieht man die Neigungen, die Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e und Hand-<lb/>
lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal-<lb/>
lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgru&#x0364;nde,<lb/>
die den letztern als ihren Ur&#x017F;achen ent&#x017F;prechen, und &#x017F;ich<lb/>
al&#x017F;o in ihrer Sta&#x0364;rke nach den vorhergehenden Gemu&#x0364;ths-<lb/>
bewegungen richten &#x017F;ollen. Allein man hat aus vielen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Gru&#x0364;n-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[626/0656] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt che und eine Unordnung, die dem Gelehrten leider nur allzu bekannt iſt. Und dieſe iſt nicht nur ein Mangel einer großen Vollkommenheit, ſondern wird auch wie- derum ſelbſt dem Vermoͤgen zum Nachdenken ſchaͤdlich. „Jede uͤbertriebene Kraft verdirbt ſich ſelbſt.‟ Wer zu viel lieſet, — es iſt dieß eine bekannte Erfahrung, — und mehr Bilder und Begriffe ins Gedaͤchtniß haͤufet, als die Ueberlegungskraft in Ordnung ſetzen kann, brin- get in dem Gehirn einen Zuſtand hervor, den man in dem Koͤrper Ueberladung nennet. Die uͤbermaͤßige Be- ſchaͤfftigung der Einbildungskraft iſt, weder fuͤr den Ver- ſtand, noch fuͤr das Gedaͤchtniß vortheilhaft, noch we- niger fuͤr die Einſichten. Hat man bey beſondern Ver- anlaſſungen einmal zu viel und zu anhaltend geleſen, ſo iſt man genoͤthiget eine Zeit nachher gar nichts zu leſen, bis man fuͤhlet, daß der gehoͤrige Ton des Gehirns wie- der hergeſtellet ſey. Die uͤbertriebene einſeitige Vervollkommnung des Gefuͤhls und der Empfindſamkeit iſt nicht minder ſchaͤdlich. Wer kann dieß ſchoͤner und richtiger ſagen, als es Hr. Sulzer geſagt hat? *) Allzu empfindliche Perſonen laſſen ſich von jedem Verdruß und von jeder Freude zu lebhaft erſchuͤttern, und verrathen ſowohl eine Schwaͤche am Verſtande, als an Thaͤtigkeit des Willens. Auch die Triebe und Begierden der Seele zu Handlun- gen koͤnnen unproportionirlich ſtark geſpannt ſeyn? Gemei- niglich ſieht man die Neigungen, die Entſchluͤſſe und Hand- lungen als Wirkungen des Gefallens oder des Misfal- lens an, oder als Wirkungen der Bewegungsgruͤnde, die den letztern als ihren Urſachen entſprechen, und ſich alſo in ihrer Staͤrke nach den vorhergehenden Gemuͤths- bewegungen richten ſollen. Allein man hat aus vielen Gruͤn- *) Jn ſeinem bekannten Woͤrterbuch; Art. Empfind- ſamkeit.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/656
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/656>, abgerufen am 19.05.2024.