Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
in Hinsicht der bloß thierischen Jnstinkte ein Mit-
tel geben sie zu verfeinern, ohne sie zu schwächen? Es
giebt Begierden in dem Menschen, die nicht so sehr
zurückgehalten werden können, daß sie nicht wie aufge-
schwollene Ströme übertreten und verheeren. Sollte
man diesen nicht, durch gewisse Reihen von Jdeen und
Empfindungen, Nebencanäle graben können, in welche
sie in solchem Falle sich zertheilen und schwächen müßten?
Wer unsere witzreichen, schlüpfrigen Schriftsteller vor
dem Richterstuhl der Vernunft und der Tugend zu ver-
theidigen oder zu entschuldigen hätte, müßte, wie mich
deucht, an diesen Punkt sich halten. Wenn diese eben
zu der gedachten Absicht gearbeitet hätten, oder doch
obgleich unvollkommene Versuche gemacht, die Jn-
stinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? möchte ich
ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber so
viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von
der die strengen Beurtheiler anakreontischer Lieder, ko-
mischer Erzählungen, eines großen Theils in dem vor-
treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind-
samen Reisen, und dergleichen Schriften, die Sache
nicht angesehen haben und doch hätten ansehen sollen.
Es ist eine unläugbare Erfahrung, daß "die mannich-
"faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der
"Vernunft ist, als der rohe unentwickelte Naturtrieb."
Die Leckermäuler bey den Speisen sind gemeiniglich mäs-
siger im Essen als andere, denen ohne Unterschied alles
schmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikatesse
überwältiget, so halten sie sich doch länger zurück von
Speisen, die nicht nach ihrem sonstigen Geschmack sind,
als die letztern. Das Nämliche nimmt man bey der
Liebe und bey andern Leidenschaften wahr. Giebt es ei-
ne Menge von Bildern in der Phantasie, die mit der
Begierde verbunden sind, die sich ihr darstellen, so bald
sie sich reget, und sie dann nach verschiedenen Seiten

auf

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
in Hinſicht der bloß thieriſchen Jnſtinkte ein Mit-
tel geben ſie zu verfeinern, ohne ſie zu ſchwaͤchen? Es
giebt Begierden in dem Menſchen, die nicht ſo ſehr
zuruͤckgehalten werden koͤnnen, daß ſie nicht wie aufge-
ſchwollene Stroͤme uͤbertreten und verheeren. Sollte
man dieſen nicht, durch gewiſſe Reihen von Jdeen und
Empfindungen, Nebencanaͤle graben koͤnnen, in welche
ſie in ſolchem Falle ſich zertheilen und ſchwaͤchen muͤßten?
Wer unſere witzreichen, ſchluͤpfrigen Schriftſteller vor
dem Richterſtuhl der Vernunft und der Tugend zu ver-
theidigen oder zu entſchuldigen haͤtte, muͤßte, wie mich
deucht, an dieſen Punkt ſich halten. Wenn dieſe eben
zu der gedachten Abſicht gearbeitet haͤtten, oder doch
obgleich unvollkommene Verſuche gemacht, die Jn-
ſtinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? moͤchte ich
ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber ſo
viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von
der die ſtrengen Beurtheiler anakreontiſcher Lieder, ko-
miſcher Erzaͤhlungen, eines großen Theils in dem vor-
treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind-
ſamen Reiſen, und dergleichen Schriften, die Sache
nicht angeſehen haben und doch haͤtten anſehen ſollen.
Es iſt eine unlaͤugbare Erfahrung, daß „die mannich-
„faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der
„Vernunft iſt, als der rohe unentwickelte Naturtrieb.‟
Die Leckermaͤuler bey den Speiſen ſind gemeiniglich maͤſ-
ſiger im Eſſen als andere, denen ohne Unterſchied alles
ſchmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikateſſe
uͤberwaͤltiget, ſo halten ſie ſich doch laͤnger zuruͤck von
Speiſen, die nicht nach ihrem ſonſtigen Geſchmack ſind,
als die letztern. Das Naͤmliche nimmt man bey der
Liebe und bey andern Leidenſchaften wahr. Giebt es ei-
ne Menge von Bildern in der Phantaſie, die mit der
Begierde verbunden ſind, die ſich ihr darſtellen, ſo bald
ſie ſich reget, und ſie dann nach verſchiedenen Seiten

auf
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0650" n="620"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
in Hin&#x017F;icht der <hi rendition="#fr">bloß thieri&#x017F;chen Jn&#x017F;tinkte</hi> ein Mit-<lb/>
tel geben &#x017F;ie zu verfeinern, ohne &#x017F;ie zu &#x017F;chwa&#x0364;chen? Es<lb/>
giebt Begierden in dem Men&#x017F;chen, die nicht &#x017F;o &#x017F;ehr<lb/>
zuru&#x0364;ckgehalten werden ko&#x0364;nnen, daß &#x017F;ie nicht wie aufge-<lb/>
&#x017F;chwollene Stro&#x0364;me u&#x0364;bertreten und verheeren. Sollte<lb/>
man die&#x017F;en nicht, durch gewi&#x017F;&#x017F;e Reihen von Jdeen und<lb/>
Empfindungen, Nebencana&#x0364;le graben ko&#x0364;nnen, in welche<lb/>
&#x017F;ie in &#x017F;olchem Falle &#x017F;ich zertheilen und &#x017F;chwa&#x0364;chen mu&#x0364;ßten?<lb/>
Wer un&#x017F;ere witzreichen, &#x017F;chlu&#x0364;pfrigen Schrift&#x017F;teller vor<lb/>
dem Richter&#x017F;tuhl der Vernunft und der Tugend zu ver-<lb/>
theidigen oder zu ent&#x017F;chuldigen ha&#x0364;tte, mu&#x0364;ßte, wie mich<lb/>
deucht, an die&#x017F;en Punkt &#x017F;ich halten. Wenn die&#x017F;e eben<lb/>
zu der gedachten Ab&#x017F;icht gearbeitet ha&#x0364;tten, oder doch<lb/>
obgleich unvollkommene Ver&#x017F;uche gemacht, die Jn-<lb/>
&#x017F;tinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? mo&#x0364;chte ich<lb/>
ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber &#x017F;o<lb/>
viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von<lb/>
der die &#x017F;trengen Beurtheiler anakreonti&#x017F;cher Lieder, ko-<lb/>
mi&#x017F;cher Erza&#x0364;hlungen, eines großen Theils in dem vor-<lb/>
treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind-<lb/>
&#x017F;amen Rei&#x017F;en, und dergleichen Schriften, die Sache<lb/>
nicht ange&#x017F;ehen haben und doch ha&#x0364;tten an&#x017F;ehen &#x017F;ollen.<lb/>
Es i&#x017F;t eine unla&#x0364;ugbare Erfahrung, daß &#x201E;die mannich-<lb/>
&#x201E;faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der<lb/>
&#x201E;Vernunft i&#x017F;t, als der rohe unentwickelte Naturtrieb.&#x201F;<lb/>
Die Leckerma&#x0364;uler bey den Spei&#x017F;en &#x017F;ind gemeiniglich ma&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;iger im E&#x017F;&#x017F;en als andere, denen ohne Unter&#x017F;chied alles<lb/>
&#x017F;chmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikate&#x017F;&#x017F;e<lb/>
u&#x0364;berwa&#x0364;ltiget, &#x017F;o halten &#x017F;ie &#x017F;ich doch la&#x0364;nger zuru&#x0364;ck von<lb/>
Spei&#x017F;en, die nicht nach ihrem &#x017F;on&#x017F;tigen Ge&#x017F;chmack &#x017F;ind,<lb/>
als die letztern. Das Na&#x0364;mliche nimmt man bey der<lb/>
Liebe und bey andern Leiden&#x017F;chaften wahr. Giebt es ei-<lb/>
ne Menge von Bildern in der Phanta&#x017F;ie, die mit der<lb/>
Begierde verbunden &#x017F;ind, die &#x017F;ich ihr dar&#x017F;tellen, &#x017F;o bald<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich reget, und &#x017F;ie dann nach ver&#x017F;chiedenen Seiten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">auf</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[620/0650] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt in Hinſicht der bloß thieriſchen Jnſtinkte ein Mit- tel geben ſie zu verfeinern, ohne ſie zu ſchwaͤchen? Es giebt Begierden in dem Menſchen, die nicht ſo ſehr zuruͤckgehalten werden koͤnnen, daß ſie nicht wie aufge- ſchwollene Stroͤme uͤbertreten und verheeren. Sollte man dieſen nicht, durch gewiſſe Reihen von Jdeen und Empfindungen, Nebencanaͤle graben koͤnnen, in welche ſie in ſolchem Falle ſich zertheilen und ſchwaͤchen muͤßten? Wer unſere witzreichen, ſchluͤpfrigen Schriftſteller vor dem Richterſtuhl der Vernunft und der Tugend zu ver- theidigen oder zu entſchuldigen haͤtte, muͤßte, wie mich deucht, an dieſen Punkt ſich halten. Wenn dieſe eben zu der gedachten Abſicht gearbeitet haͤtten, oder doch obgleich unvollkommene Verſuche gemacht, die Jn- ſtinkte durchs Zertheilen zu verfeinern? moͤchte ich ihre Rechtfertigung nicht auf mich nehmen. Aber ſo viel will ich nur erinnern, daß es eine Seite giebt, von der die ſtrengen Beurtheiler anakreontiſcher Lieder, ko- miſcher Erzaͤhlungen, eines großen Theils in dem vor- treflichen Agathon, mancher Stellen in Sternes empfind- ſamen Reiſen, und dergleichen Schriften, die Sache nicht angeſehen haben und doch haͤtten anſehen ſollen. Es iſt eine unlaͤugbare Erfahrung, daß „die mannich- „faltig modificirte Begierde mehr in der Gewalt der „Vernunft iſt, als der rohe unentwickelte Naturtrieb.‟ Die Leckermaͤuler bey den Speiſen ſind gemeiniglich maͤſ- ſiger im Eſſen als andere, denen ohne Unterſchied alles ſchmeckt. Und auch wenn der Hunger ihre Delikateſſe uͤberwaͤltiget, ſo halten ſie ſich doch laͤnger zuruͤck von Speiſen, die nicht nach ihrem ſonſtigen Geſchmack ſind, als die letztern. Das Naͤmliche nimmt man bey der Liebe und bey andern Leidenſchaften wahr. Giebt es ei- ne Menge von Bildern in der Phantaſie, die mit der Begierde verbunden ſind, die ſich ihr darſtellen, ſo bald ſie ſich reget, und ſie dann nach verſchiedenen Seiten auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/650
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 620. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/650>, abgerufen am 22.11.2024.