Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. vetius mit verschiedenen andern eine vollkommene na-türliche Gleichheit zu beweisen gesucht. Auch Hr. Ver- dier tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur, wenn man sich auf sie beruft, die Abweichungen unter den Menschen zu erklären. Der letztere redet so, als wenn er die ganze Ausbildung, am Körper wie an der Seele, bloß für eine Wirkung von den äußern Ursachen ansähe. *) Was beide diese Schriftsteller hierüber ge- sagt haben, und besonders die bestreitenden Gründe des Helvetius, können am Ende uns zwar zur Warnung dienen, die angeborne Verschiedenheit nicht zu groß zu schätzen; aber sie erweisen nichts weniger, als daß ganz und gar keine vorhanden sey. Viele haben sie unstrei- tig übertrieben, und der Natur zur Last gelegt, was der mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuschreiben ist. Und darum lobe ich den paradoxen Verfasser, der, indem er die der gemeinen Meinung entgegengesetzte Seite der Sache ergriffen und auch diese übertrieben hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die Wahrheit liegt, desto leichter und deutlicher zu sehen. Jeder Mensch, vorausgesetzt daß er völlig organisirt ist, -- dieß ist das immer wiederzurückkehrende Rai- sonnement des Helvetius; -- kann eben dasselbige er- lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die Kunst versteht, seinen Verstand durch alle nöthige Mit- telbegriffe auf die letztern Schlußsätze hinzuführen. Je- de Einsicht löset sich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile auf. Und solche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen zu fassen, ist der Kopf des Einfältigen so gut aufgelegt, als das Genie eines Leibnitz. Der einzige von Hel- vetius in der Rechnung übersehene Umstand ist, wie ich anderswo schon bemerket habe, dieser: daß nicht je- der *) Second Recueil de Memoires et d' observations sur la
perfectibilite de l' homme. p. 1-38. und Entwickelung des Menſchen. vetius mit verſchiedenen andern eine vollkommene na-tuͤrliche Gleichheit zu beweiſen geſucht. Auch Hr. Ver- dier tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur, wenn man ſich auf ſie beruft, die Abweichungen unter den Menſchen zu erklaͤren. Der letztere redet ſo, als wenn er die ganze Ausbildung, am Koͤrper wie an der Seele, bloß fuͤr eine Wirkung von den aͤußern Urſachen anſaͤhe. *) Was beide dieſe Schriftſteller hieruͤber ge- ſagt haben, und beſonders die beſtreitenden Gruͤnde des Helvetius, koͤnnen am Ende uns zwar zur Warnung dienen, die angeborne Verſchiedenheit nicht zu groß zu ſchaͤtzen; aber ſie erweiſen nichts weniger, als daß ganz und gar keine vorhanden ſey. Viele haben ſie unſtrei- tig uͤbertrieben, und der Natur zur Laſt gelegt, was der mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuſchreiben iſt. Und darum lobe ich den paradoxen Verfaſſer, der, indem er die der gemeinen Meinung entgegengeſetzte Seite der Sache ergriffen und auch dieſe uͤbertrieben hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die Wahrheit liegt, deſto leichter und deutlicher zu ſehen. Jeder Menſch, vorausgeſetzt daß er voͤllig organiſirt iſt, — dieß iſt das immer wiederzuruͤckkehrende Rai- ſonnement des Helvetius; — kann eben daſſelbige er- lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die Kunſt verſteht, ſeinen Verſtand durch alle noͤthige Mit- telbegriffe auf die letztern Schlußſaͤtze hinzufuͤhren. Je- de Einſicht loͤſet ſich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile auf. Und ſolche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen zu faſſen, iſt der Kopf des Einfaͤltigen ſo gut aufgelegt, als das Genie eines Leibnitz. Der einzige von Hel- vetius in der Rechnung uͤberſehene Umſtand iſt, wie ich anderswo ſchon bemerket habe, dieſer: daß nicht je- der *) Second Recueil de Memoires et d’ obſervations ſur la
perfectibilité de l’ homme. p. 1-38. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0587" n="557"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">vetius</hi> mit verſchiedenen andern eine vollkommene na-<lb/> tuͤrliche Gleichheit zu beweiſen geſucht. Auch Hr. <hi rendition="#fr">Ver-<lb/> dier</hi> tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur,<lb/> wenn man ſich auf ſie beruft, die Abweichungen unter<lb/> den Menſchen zu erklaͤren. Der letztere redet ſo, als<lb/> wenn er die ganze Ausbildung, am Koͤrper wie an der<lb/> Seele, bloß fuͤr eine Wirkung von den aͤußern Urſachen<lb/> anſaͤhe. <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Second Recueil</hi> de Memoires et d’ obſervations ſur la<lb/> perfectibilité de l’ homme. p.</hi> 1-38.</note> Was beide dieſe Schriftſteller hieruͤber ge-<lb/> ſagt haben, und beſonders die beſtreitenden Gruͤnde des<lb/><hi rendition="#fr">Helvetius,</hi> koͤnnen am Ende uns zwar zur Warnung<lb/> dienen, die angeborne Verſchiedenheit nicht zu groß zu<lb/> ſchaͤtzen; aber ſie erweiſen nichts weniger, als daß ganz<lb/> und gar keine vorhanden ſey. Viele haben ſie unſtrei-<lb/> tig uͤbertrieben, und der Natur zur Laſt gelegt, was der<lb/> mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuſchreiben<lb/> iſt. Und darum lobe ich den paradoxen Verfaſſer, der,<lb/> indem er die der gemeinen Meinung entgegengeſetzte<lb/> Seite der Sache ergriffen und auch dieſe uͤbertrieben<lb/> hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die<lb/> Wahrheit liegt, deſto leichter und deutlicher zu ſehen.<lb/> Jeder Menſch, vorausgeſetzt daß er voͤllig organiſirt<lb/> iſt, — dieß iſt das immer wiederzuruͤckkehrende Rai-<lb/> ſonnement des <hi rendition="#fr">Helvetius;</hi> — kann eben daſſelbige er-<lb/> lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die<lb/> Kunſt verſteht, ſeinen Verſtand durch alle noͤthige Mit-<lb/> telbegriffe auf die letztern Schlußſaͤtze hinzufuͤhren. Je-<lb/> de Einſicht loͤſet ſich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile<lb/> auf. Und ſolche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen<lb/> zu faſſen, iſt der Kopf des Einfaͤltigen ſo gut aufgelegt,<lb/> als das Genie eines <hi rendition="#fr">Leibnitz.</hi> Der einzige von <hi rendition="#fr">Hel-<lb/> vetius</hi> in der Rechnung uͤberſehene Umſtand iſt, wie<lb/> ich anderswo ſchon bemerket habe, dieſer: daß nicht je-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [557/0587]
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dier tadelt es, als einen Misbrauch des Worts Natur,
wenn man ſich auf ſie beruft, die Abweichungen unter
den Menſchen zu erklaͤren. Der letztere redet ſo, als
wenn er die ganze Ausbildung, am Koͤrper wie an der
Seele, bloß fuͤr eine Wirkung von den aͤußern Urſachen
anſaͤhe. *) Was beide dieſe Schriftſteller hieruͤber ge-
ſagt haben, und beſonders die beſtreitenden Gruͤnde des
Helvetius, koͤnnen am Ende uns zwar zur Warnung
dienen, die angeborne Verſchiedenheit nicht zu groß zu
ſchaͤtzen; aber ſie erweiſen nichts weniger, als daß ganz
und gar keine vorhanden ſey. Viele haben ſie unſtrei-
tig uͤbertrieben, und der Natur zur Laſt gelegt, was der
mangelhaften und fehlervollen Erziehung zuzuſchreiben
iſt. Und darum lobe ich den paradoxen Verfaſſer, der,
indem er die der gemeinen Meinung entgegengeſetzte
Seite der Sache ergriffen und auch dieſe uͤbertrieben
hat, andern Gelegenheit giebt, die Mitte, wo die
Wahrheit liegt, deſto leichter und deutlicher zu ſehen.
Jeder Menſch, vorausgeſetzt daß er voͤllig organiſirt
iſt, — dieß iſt das immer wiederzuruͤckkehrende Rai-
ſonnement des Helvetius; — kann eben daſſelbige er-
lernen, was andere erlernet haben, wenn man nur die
Kunſt verſteht, ſeinen Verſtand durch alle noͤthige Mit-
telbegriffe auf die letztern Schlußſaͤtze hinzufuͤhren. Je-
de Einſicht loͤſet ſich in eine Reihe unmittelbarer Urtheile
auf. Und ſolche unmittelbare Vergleichungen der Jdeen
zu faſſen, iſt der Kopf des Einfaͤltigen ſo gut aufgelegt,
als das Genie eines Leibnitz. Der einzige von Hel-
vetius in der Rechnung uͤberſehene Umſtand iſt, wie
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*) Second Recueil de Memoires et d’ obſervations ſur la
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