Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität

Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an-
gebornen Natur der Menschen befasset werden müsse,
kann bey der Seele nicht anders als bey dem Körper,
nämlich aus Beobachtungen und durch die Auflösung
und Vergleichung derselben, entschieden werden. Hier
schließet sich also die gegenwärtige Betrachtung an die
Untersuchungen, die ich hierüber in dem eilften Versuche
angestellt habe. Die Kindesseele in dem Kindeskörper
ist ein Wesen, welches gewisse Arten von Veränderun-
gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil selbstthätig
bewirken kann. Wenn die Philosophen ihre Natur-
kraft als eine empfindende, vorstellende, ausdenkende
Kraft ansehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen
Auflösung ihre Kraft als eine perfektible, selbstthätige
und fühlende Kraft betrachten, und auf diese Grundbe-
schaffenheiten ihre Vermögen zum Fühlen, zum Vor-
stellen, zum Denken und zum Handeln zurückführen:
so ist doch gewiß, daß diese Jdee von der Natur noch
weiter nichts als das Formelle, nämlich die Art zu wir-
ken und die Richtung in der innern Kraft dieses Wesens,
darstellet. Nun aber hat sie auch gewisse Modifikatio-
nen, und ist aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch
die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des
Körpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be-
stehet das Materielle dieser ihrer Beschaffenheiten, die
sie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein-
drücken, die sie nun so empfangen kann, daß sie solche
fühlet, sich vorstellet und absondert? Sie ist z. B. auf-
gelegt Eindrücke von dem Lichte durch die Augen, von
Tönen durch die Ohren, und so ferner, zu empfangen.
Sollte sie nicht auch wohl zu den Eindrücken des sechsten
Sinnes in gleicher Maße geschickt seyn, wenn sie nur
mit Werkzeugen versehen wäre, die sich darauf beziehen?
Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen
Zustande, oder von ihren derzeitigen Beschaffenheiten

schlech-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an-
gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe,
kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper,
naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung
und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier
ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die
Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche
angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper
iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun-
gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig
bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur-
kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende
Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen
Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige
und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe-
ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor-
ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren:
ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch
weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir-
ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens,
darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio-
nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch
die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des
Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be-
ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die
ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein-
druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche
fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf-
gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von
Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen.
Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten
Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur
mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen?
Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen
Zuſtande, oder von ihren derzeitigen Beſchaffenheiten

ſchlech-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0576" n="546"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi> </fw><lb/>
            <p>Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an-<lb/>
gebornen Natur der Men&#x017F;chen befa&#x017F;&#x017F;et werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
kann bey der Seele nicht anders als bey dem Ko&#x0364;rper,<lb/>
na&#x0364;mlich aus Beobachtungen und durch die Auflo&#x0364;&#x017F;ung<lb/>
und Vergleichung der&#x017F;elben, ent&#x017F;chieden werden. Hier<lb/>
&#x017F;chließet &#x017F;ich al&#x017F;o die gegenwa&#x0364;rtige Betrachtung an die<lb/>
Unter&#x017F;uchungen, die ich hieru&#x0364;ber in dem eilften Ver&#x017F;uche<lb/>
ange&#x017F;tellt habe. Die Kindes&#x017F;eele in dem Kindesko&#x0364;rper<lb/>
i&#x017F;t ein We&#x017F;en, welches gewi&#x017F;&#x017F;e Arten von Vera&#x0364;nderun-<lb/>
gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tig<lb/>
bewirken kann. Wenn die Philo&#x017F;ophen ihre Natur-<lb/>
kraft als eine empfindende, vor&#x017F;tellende, ausdenkende<lb/>
Kraft an&#x017F;ehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen<lb/>
Auflo&#x0364;&#x017F;ung ihre Kraft als eine perfektible, &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige<lb/>
und fu&#x0364;hlende Kraft betrachten, und auf die&#x017F;e Grundbe-<lb/>
&#x017F;chaffenheiten ihre Vermo&#x0364;gen zum Fu&#x0364;hlen, zum Vor-<lb/>
&#x017F;tellen, zum Denken und zum Handeln zuru&#x0364;ckfu&#x0364;hren:<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t doch gewiß, daß die&#x017F;e Jdee von der Natur noch<lb/>
weiter nichts als das Formelle, na&#x0364;mlich die Art zu wir-<lb/>
ken und die Richtung in der innern Kraft die&#x017F;es We&#x017F;ens,<lb/>
dar&#x017F;tellet. Nun aber hat &#x017F;ie auch gewi&#x017F;&#x017F;e Modifikatio-<lb/>
nen, und i&#x017F;t aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch<lb/>
die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des<lb/>
Ko&#x0364;rpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be-<lb/>
&#x017F;tehet das Materielle die&#x017F;er ihrer Be&#x017F;chaffenheiten, die<lb/>
&#x017F;ie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein-<lb/>
dru&#x0364;cken, die &#x017F;ie nun &#x017F;o empfangen kann, daß &#x017F;ie &#x017F;olche<lb/>
fu&#x0364;hlet, &#x017F;ich vor&#x017F;tellet und ab&#x017F;ondert? Sie i&#x017F;t z. B. auf-<lb/>
gelegt Eindru&#x0364;cke von dem Lichte durch die Augen, von<lb/>
To&#x0364;nen durch die Ohren, und &#x017F;o ferner, zu empfangen.<lb/>
Sollte &#x017F;ie nicht auch wohl zu den Eindru&#x0364;cken des &#x017F;ech&#x017F;ten<lb/>
Sinnes in gleicher Maße ge&#x017F;chickt &#x017F;eyn, wenn &#x017F;ie nur<lb/>
mit Werkzeugen ver&#x017F;ehen wa&#x0364;re, die &#x017F;ich darauf beziehen?<lb/>
Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen<lb/>
Zu&#x017F;tande, oder von ihren derzeitigen Be&#x017F;chaffenheiten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chlech-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[546/0576] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an- gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe, kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper, naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun- gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur- kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe- ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor- ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren: ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir- ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens, darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio- nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be- ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein- druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf- gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen. Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen? Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen Zuſtande, oder von ihren derzeitigen Beſchaffenheiten ſchlech-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/576
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/576>, abgerufen am 22.11.2024.