Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an- gebornen Natur der Menschen befasset werden müsse, kann bey der Seele nicht anders als bey dem Körper, nämlich aus Beobachtungen und durch die Auflösung und Vergleichung derselben, entschieden werden. Hier schließet sich also die gegenwärtige Betrachtung an die Untersuchungen, die ich hierüber in dem eilften Versuche angestellt habe. Die Kindesseele in dem Kindeskörper ist ein Wesen, welches gewisse Arten von Veränderun- gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil selbstthätig bewirken kann. Wenn die Philosophen ihre Natur- kraft als eine empfindende, vorstellende, ausdenkende Kraft ansehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen Auflösung ihre Kraft als eine perfektible, selbstthätige und fühlende Kraft betrachten, und auf diese Grundbe- schaffenheiten ihre Vermögen zum Fühlen, zum Vor- stellen, zum Denken und zum Handeln zurückführen: so ist doch gewiß, daß diese Jdee von der Natur noch weiter nichts als das Formelle, nämlich die Art zu wir- ken und die Richtung in der innern Kraft dieses Wesens, darstellet. Nun aber hat sie auch gewisse Modifikatio- nen, und ist aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des Körpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be- stehet das Materielle dieser ihrer Beschaffenheiten, die sie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein- drücken, die sie nun so empfangen kann, daß sie solche fühlet, sich vorstellet und absondert? Sie ist z. B. auf- gelegt Eindrücke von dem Lichte durch die Augen, von Tönen durch die Ohren, und so ferner, zu empfangen. Sollte sie nicht auch wohl zu den Eindrücken des sechsten Sinnes in gleicher Maße geschickt seyn, wenn sie nur mit Werkzeugen versehen wäre, die sich darauf beziehen? Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen Zustande, oder von ihren derzeitigen Beschaffenheiten
schlech-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an- gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe, kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper, naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun- gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur- kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe- ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor- ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren: ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir- ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens, darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio- nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be- ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein- druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf- gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen. Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen? Jm Grunde haben wir von dem materiellen angebornen Zuſtande, oder von ihren derzeitigen Beſchaffenheiten
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Was und wie viel aber in dem Begriffe von der an-
gebornen Natur der Menſchen befaſſet werden muͤſſe,
kann bey der Seele nicht anders als bey dem Koͤrper,
naͤmlich aus Beobachtungen und durch die Aufloͤſung
und Vergleichung derſelben, entſchieden werden. Hier
ſchließet ſich alſo die gegenwaͤrtige Betrachtung an die
Unterſuchungen, die ich hieruͤber in dem eilften Verſuche
angeſtellt habe. Die Kindesſeele in dem Kindeskoͤrper
iſt ein Weſen, welches gewiſſe Arten von Veraͤnderun-
gen aufnehmen, bearbeiten und zum Theil ſelbſtthaͤtig
bewirken kann. Wenn die Philoſophen ihre Natur-
kraft als eine empfindende, vorſtellende, ausdenkende
Kraft anſehen; oder wenn wir nach Anleitung der obigen
Aufloͤſung ihre Kraft als eine perfektible, ſelbſtthaͤtige
und fuͤhlende Kraft betrachten, und auf dieſe Grundbe-
ſchaffenheiten ihre Vermoͤgen zum Fuͤhlen, zum Vor-
ſtellen, zum Denken und zum Handeln zuruͤckfuͤhren:
ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Jdee von der Natur noch
weiter nichts als das Formelle, naͤmlich die Art zu wir-
ken und die Richtung in der innern Kraft dieſes Weſens,
darſtellet. Nun aber hat ſie auch gewiſſe Modifikatio-
nen, und iſt aufgelegt andere aufzunehmen, die ihr durch
die Einrichtung der Organen, und nach der Lage des
Koͤrpers in der Welt, beygebracht werden. Worinn be-
ſtehet das Materielle dieſer ihrer Beſchaffenheiten, die
ſie hat, und das Materielle in den Anlagen zu den Ein-
druͤcken, die ſie nun ſo empfangen kann, daß ſie ſolche
fuͤhlet, ſich vorſtellet und abſondert? Sie iſt z. B. auf-
gelegt Eindruͤcke von dem Lichte durch die Augen, von
Toͤnen durch die Ohren, und ſo ferner, zu empfangen.
Sollte ſie nicht auch wohl zu den Eindruͤcken des ſechſten
Sinnes in gleicher Maße geſchickt ſeyn, wenn ſie nur
mit Werkzeugen verſehen waͤre, die ſich darauf beziehen?
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 546. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/576>, abgerufen am 22.11.2024.
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