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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität

Aber ist es dieß alles, was hier vorgehet? Kommt
das neue Horn auf dem Kamm des Hahns nicht in eine
Verbindung mit den Gefäßen des Kamms, und dadurch
mit dem Kopf und mit dem ganzen Körper des Hahns?
und kommt es nicht in eine nähere Verbindung damit,
als die Verbindung ist, worinn eine Pflanze mit dem
Boden stehet, aus dem sie ihre Nahrung ziehet? Ge-
hen nicht in jenem Fall die sich entwickelnden Fasern in
dem Sporn, mit den sich entwickelnden Gefäßen in dem
Kamm in ein Ganzes zusammen? und machen nicht
also diese sich einander begegnenden und sich vereinigenden
Fibern ein neues organisches Ganzes aus? Jst nicht da-
durch eine neue, aus ihrer Vereinigung entstandene Form
geworden? Vereiniget sich nicht auf eine ähnliche Weise
der gepfropfte Zweig mit dem Stamm zu Einem orga-
nischen Ganzen, zu einem Baum? Und wie ist dieses
begreiflich oder möglich, wenn nicht die Netze, Maschen
und Rauten aus dem Stamme und aus dem Pfropfreis
sich ineinander schlingen, sich vereinigen und dadurch
neue Formen und Gefäße machen, durch welche die Säfte
nachher übergehen, die sich Stamm und Zweig einander
mittheilen? Diese Zwischennetze oder Canäle können
doch nicht durch die Entwickelung allein entstanden seyn,
sondern erfodern nothwendig außer dieser eine Verbin-
dungsart der Gefäße, die sich entwickeln, und dann zu-
sammengehen und vereinigen. Soll etwan die genaue
Vereinigung der zusammengewachsenen Körper geläug-
net, oder soll sie für nichts mehr als eine solche Verbin-
dung gehalten werden, worinn die Erde, welche die
Wurzeln eines Baums umgiebt, mit diesen Wurzeln
stehet? Hier ist kein Aneinanderwachsen. Die Erde
und die Wurzeln machen kein organisches zusammenge-
wachsenes Ganzes aus. Kann es geläugnet werden, daß
jenes mehr sey?

Die
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt

Aber iſt es dieß alles, was hier vorgehet? Kommt
das neue Horn auf dem Kamm des Hahns nicht in eine
Verbindung mit den Gefaͤßen des Kamms, und dadurch
mit dem Kopf und mit dem ganzen Koͤrper des Hahns?
und kommt es nicht in eine naͤhere Verbindung damit,
als die Verbindung iſt, worinn eine Pflanze mit dem
Boden ſtehet, aus dem ſie ihre Nahrung ziehet? Ge-
hen nicht in jenem Fall die ſich entwickelnden Faſern in
dem Sporn, mit den ſich entwickelnden Gefaͤßen in dem
Kamm in ein Ganzes zuſammen? und machen nicht
alſo dieſe ſich einander begegnenden und ſich vereinigenden
Fibern ein neues organiſches Ganzes aus? Jſt nicht da-
durch eine neue, aus ihrer Vereinigung entſtandene Form
geworden? Vereiniget ſich nicht auf eine aͤhnliche Weiſe
der gepfropfte Zweig mit dem Stamm zu Einem orga-
niſchen Ganzen, zu einem Baum? Und wie iſt dieſes
begreiflich oder moͤglich, wenn nicht die Netze, Maſchen
und Rauten aus dem Stamme und aus dem Pfropfreis
ſich ineinander ſchlingen, ſich vereinigen und dadurch
neue Formen und Gefaͤße machen, durch welche die Saͤfte
nachher uͤbergehen, die ſich Stamm und Zweig einander
mittheilen? Dieſe Zwiſchennetze oder Canaͤle koͤnnen
doch nicht durch die Entwickelung allein entſtanden ſeyn,
ſondern erfodern nothwendig außer dieſer eine Verbin-
dungsart der Gefaͤße, die ſich entwickeln, und dann zu-
ſammengehen und vereinigen. Soll etwan die genaue
Vereinigung der zuſammengewachſenen Koͤrper gelaͤug-
net, oder ſoll ſie fuͤr nichts mehr als eine ſolche Verbin-
dung gehalten werden, worinn die Erde, welche die
Wurzeln eines Baums umgiebt, mit dieſen Wurzeln
ſtehet? Hier iſt kein Aneinanderwachſen. Die Erde
und die Wurzeln machen kein organiſches zuſammenge-
wachſenes Ganzes aus. Kann es gelaͤugnet werden, daß
jenes mehr ſey?

Die
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[506/0536] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Aber iſt es dieß alles, was hier vorgehet? Kommt das neue Horn auf dem Kamm des Hahns nicht in eine Verbindung mit den Gefaͤßen des Kamms, und dadurch mit dem Kopf und mit dem ganzen Koͤrper des Hahns? und kommt es nicht in eine naͤhere Verbindung damit, als die Verbindung iſt, worinn eine Pflanze mit dem Boden ſtehet, aus dem ſie ihre Nahrung ziehet? Ge- hen nicht in jenem Fall die ſich entwickelnden Faſern in dem Sporn, mit den ſich entwickelnden Gefaͤßen in dem Kamm in ein Ganzes zuſammen? und machen nicht alſo dieſe ſich einander begegnenden und ſich vereinigenden Fibern ein neues organiſches Ganzes aus? Jſt nicht da- durch eine neue, aus ihrer Vereinigung entſtandene Form geworden? Vereiniget ſich nicht auf eine aͤhnliche Weiſe der gepfropfte Zweig mit dem Stamm zu Einem orga- niſchen Ganzen, zu einem Baum? Und wie iſt dieſes begreiflich oder moͤglich, wenn nicht die Netze, Maſchen und Rauten aus dem Stamme und aus dem Pfropfreis ſich ineinander ſchlingen, ſich vereinigen und dadurch neue Formen und Gefaͤße machen, durch welche die Saͤfte nachher uͤbergehen, die ſich Stamm und Zweig einander mittheilen? Dieſe Zwiſchennetze oder Canaͤle koͤnnen doch nicht durch die Entwickelung allein entſtanden ſeyn, ſondern erfodern nothwendig außer dieſer eine Verbin- dungsart der Gefaͤße, die ſich entwickeln, und dann zu- ſammengehen und vereinigen. Soll etwan die genaue Vereinigung der zuſammengewachſenen Koͤrper gelaͤug- net, oder ſoll ſie fuͤr nichts mehr als eine ſolche Verbin- dung gehalten werden, worinn die Erde, welche die Wurzeln eines Baums umgiebt, mit dieſen Wurzeln ſtehet? Hier iſt kein Aneinanderwachſen. Die Erde und die Wurzeln machen kein organiſches zuſammenge- wachſenes Ganzes aus. Kann es gelaͤugnet werden, daß jenes mehr ſey? Die

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/536>, abgerufen am 18.06.2024.