then, wenigstens habe ich es nicht vermuthet, daß die Sache leicht zu entscheiden sey. Meine Behutsamkeit, welche eine Folge von dieser Ueberzeugung war, ist noch dadurch vergrößert, daß ich nicht nach eigenen Beobach- tungen urtheilen kann. Jch habe die Gelegenheit nicht gehabt, in die innere Werkstatt der sich entwickelnden Natur hineinzusehen, noch weniger Versuche zu machen und die Wirkungen derselben zu zergliedern, sondern die- se höchstens nur von der Außenseite etwas beobachten können. Das Selbstsehen hat große Vortheile. Es enthält immer einige, wenn gleich nicht allemal deutli- che Winke für die Urtheilskraft, die dem entgehen, der nur aus fremden Zeugnissen die Fakta kennet, und nach den von andern aufgenommenen Protokollen urtheilen soll. Jndessen habe ich mich damit getröstet, daß der Philosoph, der über die Geschichte der Menschheit denket, sich die meistenmale in ähnlichen Umständen befindet. Und dazu kommt, daß die Autopsie, so wie sie auf einer Seite vieles voraus hat um dem Verstande auf das rech- te Gleis zu helfen, auf der andern durch ihre Lebhaftig- keit oft hinderlich wird, alle Seiten der Sache zugleich zu fassen und in sich gegenwärtig zu erhalten. Jch muß es geschehen lassen, wenn man mich dieses Man- gels wegen für keinen gebührenden Richter erkennet: aber für mich selbst gestehe ich, daß ich dadurch zwar äußerst behutsam aber nicht furchtsam gemacht sey.
Das zweyte, was ich vorher zu sagen habe, ist, daß man sich beständig an den Zweck erinnere, den man ha- ben kann, wenn man über die Natur der Bildung und der Entwickelung nachforschet. Diese Wirkung der Natur, ist von einer Seite betrachtet, was das Besondere betrift, unerforschlich und ein Geheimniß, und wird es vielleicht auch immer bleiben. Ein Haller siehet etwas mehr, näher, deutlicher als ein anderer; aber hat der große Mann irgend die Entstehung auch nur ei-
nes
IITheil. F f
und Entwickelung des Menſchen.
then, wenigſtens habe ich es nicht vermuthet, daß die Sache leicht zu entſcheiden ſey. Meine Behutſamkeit, welche eine Folge von dieſer Ueberzeugung war, iſt noch dadurch vergroͤßert, daß ich nicht nach eigenen Beobach- tungen urtheilen kann. Jch habe die Gelegenheit nicht gehabt, in die innere Werkſtatt der ſich entwickelnden Natur hineinzuſehen, noch weniger Verſuche zu machen und die Wirkungen derſelben zu zergliedern, ſondern die- ſe hoͤchſtens nur von der Außenſeite etwas beobachten koͤnnen. Das Selbſtſehen hat große Vortheile. Es enthaͤlt immer einige, wenn gleich nicht allemal deutli- che Winke fuͤr die Urtheilskraft, die dem entgehen, der nur aus fremden Zeugniſſen die Fakta kennet, und nach den von andern aufgenommenen Protokollen urtheilen ſoll. Jndeſſen habe ich mich damit getroͤſtet, daß der Philoſoph, der uͤber die Geſchichte der Menſchheit denket, ſich die meiſtenmale in aͤhnlichen Umſtaͤnden befindet. Und dazu kommt, daß die Autopſie, ſo wie ſie auf einer Seite vieles voraus hat um dem Verſtande auf das rech- te Gleis zu helfen, auf der andern durch ihre Lebhaftig- keit oft hinderlich wird, alle Seiten der Sache zugleich zu faſſen und in ſich gegenwaͤrtig zu erhalten. Jch muß es geſchehen laſſen, wenn man mich dieſes Man- gels wegen fuͤr keinen gebuͤhrenden Richter erkennet: aber fuͤr mich ſelbſt geſtehe ich, daß ich dadurch zwar aͤußerſt behutſam aber nicht furchtſam gemacht ſey.
Das zweyte, was ich vorher zu ſagen habe, iſt, daß man ſich beſtaͤndig an den Zweck erinnere, den man ha- ben kann, wenn man uͤber die Natur der Bildung und der Entwickelung nachforſchet. Dieſe Wirkung der Natur, iſt von einer Seite betrachtet, was das Beſondere betrift, unerforſchlich und ein Geheimniß, und wird es vielleicht auch immer bleiben. Ein Haller ſiehet etwas mehr, naͤher, deutlicher als ein anderer; aber hat der große Mann irgend die Entſtehung auch nur ei-
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und Entwickelung des Menſchen.
then, wenigſtens habe ich es nicht vermuthet, daß die
Sache leicht zu entſcheiden ſey. Meine Behutſamkeit,
welche eine Folge von dieſer Ueberzeugung war, iſt noch
dadurch vergroͤßert, daß ich nicht nach eigenen Beobach-
tungen urtheilen kann. Jch habe die Gelegenheit nicht
gehabt, in die innere Werkſtatt der ſich entwickelnden
Natur hineinzuſehen, noch weniger Verſuche zu machen
und die Wirkungen derſelben zu zergliedern, ſondern die-
ſe hoͤchſtens nur von der Außenſeite etwas beobachten
koͤnnen. Das Selbſtſehen hat große Vortheile. Es
enthaͤlt immer einige, wenn gleich nicht allemal deutli-
che Winke fuͤr die Urtheilskraft, die dem entgehen, der
nur aus fremden Zeugniſſen die Fakta kennet, und nach
den von andern aufgenommenen Protokollen urtheilen
ſoll. Jndeſſen habe ich mich damit getroͤſtet, daß der
Philoſoph, der uͤber die Geſchichte der Menſchheit denket,
ſich die meiſtenmale in aͤhnlichen Umſtaͤnden befindet.
Und dazu kommt, daß die Autopſie, ſo wie ſie auf einer
Seite vieles voraus hat um dem Verſtande auf das rech-
te Gleis zu helfen, auf der andern durch ihre Lebhaftig-
keit oft hinderlich wird, alle Seiten der Sache zugleich
zu faſſen und in ſich gegenwaͤrtig zu erhalten. Jch
muß es geſchehen laſſen, wenn man mich dieſes Man-
gels wegen fuͤr keinen gebuͤhrenden Richter erkennet:
aber fuͤr mich ſelbſt geſtehe ich, daß ich dadurch zwar
aͤußerſt behutſam aber nicht furchtſam gemacht ſey.
Das zweyte, was ich vorher zu ſagen habe, iſt, daß
man ſich beſtaͤndig an den Zweck erinnere, den man ha-
ben kann, wenn man uͤber die Natur der Bildung und
der Entwickelung nachforſchet. Dieſe Wirkung der
Natur, iſt von einer Seite betrachtet, was das Beſondere
betrift, unerforſchlich und ein Geheimniß, und wird
es vielleicht auch immer bleiben. Ein Haller ſiehet
etwas mehr, naͤher, deutlicher als ein anderer; aber
hat der große Mann irgend die Entſtehung auch nur ei-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/479>, abgerufen am 03.12.2024.
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