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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
nicht empfänglich seyn sollten, als es ist, daß einem Men-
schen mit gesunden Augen der Sinn fehlen sollte für sicht-
bare Sachen, die ihm niemals vorkommen. Der Fischer
auf Nordseeland, der nicht den geringsten neubegierigen
Blick auf die vor ihm vorbeyfahrenden Engländer warf,
die ihm freylich neu genug seyn mußten, hat doch wohl
einen Sinn dazu gehabt sie anzugaffen, und das Uner-
wartete dieses Anblicks zu fühlen, so gut wie seine Lan-
desleute. Solche Vermögen und Fertigkeiten also, de-
ren Eigenes blos objektivisch ist, können schlechthin nicht
als besondere Naturvermögen angeführet werden, zu-
mal wenn um die dazu gehörigen Objekte zu fassen, nur
eben solche Sinne erfodert werden, als alle andere Men-
schen besitzen. Der Neuseeländer, der Wurfspieße,
Kähne und Schnitzwerk verfertigen kann, hat auch das
Vermögen, ein engländischer Schifszimmermann,
Büchsenmeister und ein Bildhauer zu werden. Es ist
dasselbige Vermögen, was jenen und diesen macht, wie
das Ueberlegungsvermögen, das ein Schachspieler übet,
dieselbige Fähigkeit ist, womit die Geometrie erlernet
wird.

3) Aus der Geschichte der Menschheit kann es als
entschieden angesehen werden, daß die obige erste An-
merkung auf alle besondre Arten der menschlichen Ver-
mögen, sogar auf die Vernunftfähigkeit, ausgedehnet
werden müsse. Jst nämlich von solchen Anlagen in der
Natur die Rede, die bey allen möglichen Verschieden-
heiten der äußern Umstände sich entwickeln, wo der
Mensch mit seinen gewöhnlichen Sinngliedern aufwäch-
set: so lehren die Beyspiele von den außer der Gesell-
schaft verwilderten Jndividuen, daß auch sogar die
Denkkraft zurückbleiben kann, und daß nur allein das
Gefühl und die vorstellende Kraft in der Seele so be-
stimmt sind, wie die Anfangspunkte zum Kopf und zu
den Gliedern in dem Embryon, so stark treibende Keime

nämlich,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
nicht empfaͤnglich ſeyn ſollten, als es iſt, daß einem Men-
ſchen mit geſunden Augen der Sinn fehlen ſollte fuͤr ſicht-
bare Sachen, die ihm niemals vorkommen. Der Fiſcher
auf Nordſeeland, der nicht den geringſten neubegierigen
Blick auf die vor ihm vorbeyfahrenden Englaͤnder warf,
die ihm freylich neu genug ſeyn mußten, hat doch wohl
einen Sinn dazu gehabt ſie anzugaffen, und das Uner-
wartete dieſes Anblicks zu fuͤhlen, ſo gut wie ſeine Lan-
desleute. Solche Vermoͤgen und Fertigkeiten alſo, de-
ren Eigenes blos objektiviſch iſt, koͤnnen ſchlechthin nicht
als beſondere Naturvermoͤgen angefuͤhret werden, zu-
mal wenn um die dazu gehoͤrigen Objekte zu faſſen, nur
eben ſolche Sinne erfodert werden, als alle andere Men-
ſchen beſitzen. Der Neuſeelaͤnder, der Wurfſpieße,
Kaͤhne und Schnitzwerk verfertigen kann, hat auch das
Vermoͤgen, ein englaͤndiſcher Schifszimmermann,
Buͤchſenmeiſter und ein Bildhauer zu werden. Es iſt
daſſelbige Vermoͤgen, was jenen und dieſen macht, wie
das Ueberlegungsvermoͤgen, das ein Schachſpieler uͤbet,
dieſelbige Faͤhigkeit iſt, womit die Geometrie erlernet
wird.

3) Aus der Geſchichte der Menſchheit kann es als
entſchieden angeſehen werden, daß die obige erſte An-
merkung auf alle beſondre Arten der menſchlichen Ver-
moͤgen, ſogar auf die Vernunftfaͤhigkeit, ausgedehnet
werden muͤſſe. Jſt naͤmlich von ſolchen Anlagen in der
Natur die Rede, die bey allen moͤglichen Verſchieden-
heiten der aͤußern Umſtaͤnde ſich entwickeln, wo der
Menſch mit ſeinen gewoͤhnlichen Sinngliedern aufwaͤch-
ſet: ſo lehren die Beyſpiele von den außer der Geſell-
ſchaft verwilderten Jndividuen, daß auch ſogar die
Denkkraft zuruͤckbleiben kann, und daß nur allein das
Gefuͤhl und die vorſtellende Kraft in der Seele ſo be-
ſtimmt ſind, wie die Anfangspunkte zum Kopf und zu
den Gliedern in dem Embryon, ſo ſtark treibende Keime

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[444/0474] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt nicht empfaͤnglich ſeyn ſollten, als es iſt, daß einem Men- ſchen mit geſunden Augen der Sinn fehlen ſollte fuͤr ſicht- bare Sachen, die ihm niemals vorkommen. Der Fiſcher auf Nordſeeland, der nicht den geringſten neubegierigen Blick auf die vor ihm vorbeyfahrenden Englaͤnder warf, die ihm freylich neu genug ſeyn mußten, hat doch wohl einen Sinn dazu gehabt ſie anzugaffen, und das Uner- wartete dieſes Anblicks zu fuͤhlen, ſo gut wie ſeine Lan- desleute. Solche Vermoͤgen und Fertigkeiten alſo, de- ren Eigenes blos objektiviſch iſt, koͤnnen ſchlechthin nicht als beſondere Naturvermoͤgen angefuͤhret werden, zu- mal wenn um die dazu gehoͤrigen Objekte zu faſſen, nur eben ſolche Sinne erfodert werden, als alle andere Men- ſchen beſitzen. Der Neuſeelaͤnder, der Wurfſpieße, Kaͤhne und Schnitzwerk verfertigen kann, hat auch das Vermoͤgen, ein englaͤndiſcher Schifszimmermann, Buͤchſenmeiſter und ein Bildhauer zu werden. Es iſt daſſelbige Vermoͤgen, was jenen und dieſen macht, wie das Ueberlegungsvermoͤgen, das ein Schachſpieler uͤbet, dieſelbige Faͤhigkeit iſt, womit die Geometrie erlernet wird. 3) Aus der Geſchichte der Menſchheit kann es als entſchieden angeſehen werden, daß die obige erſte An- merkung auf alle beſondre Arten der menſchlichen Ver- moͤgen, ſogar auf die Vernunftfaͤhigkeit, ausgedehnet werden muͤſſe. Jſt naͤmlich von ſolchen Anlagen in der Natur die Rede, die bey allen moͤglichen Verſchieden- heiten der aͤußern Umſtaͤnde ſich entwickeln, wo der Menſch mit ſeinen gewoͤhnlichen Sinngliedern aufwaͤch- ſet: ſo lehren die Beyſpiele von den außer der Geſell- ſchaft verwilderten Jndividuen, daß auch ſogar die Denkkraft zuruͤckbleiben kann, und daß nur allein das Gefuͤhl und die vorſtellende Kraft in der Seele ſo be- ſtimmt ſind, wie die Anfangspunkte zum Kopf und zu den Gliedern in dem Embryon, ſo ſtark treibende Keime naͤmlich,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/474>, abgerufen am 22.11.2024.