Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
lagen nicht die besondern angebornen Gefühle
und Vermögen seyn?
Man mag diesem Einwurf
so viel oder so wenig Kraft zuschreiben, als man wolle:
so siehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei-
diger des psychologischen Evolutionssystems sich aus dem
Gedränge der Beobachtungen und der Zergliederungen
der Seele, die man ihm entgegenstellet, herauswickeln
kann.

6.

Aber wenn nun gleich hierüber das Wenigste entschie-
den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo-
gie mit der Entwickelungsart der körperlichen Vermö-
gen, von der es auch noch an einem völlig bestimm-
ten Begriffe fehlet: so läßt sich doch etwas festsetzen,
und zwar so viel als zu den praktischen Folgerungen hin-
reichet, um deren willen man die Frage besonders in
Hinsicht der moralischen Gefühle: ob Natur oder
Erziehung sie hervorbringe? so scharf untersucht hat.
Denn

1) lehret die Erfahrung so viel: worinn auch
das angeborne Gefühl der Schönheit, der Tugend und
des Anstandes bestehen mag, so kann solches doch nicht
zu solchen Naturanlagen gerechnet werden, die sich von
selbst
unter allen Umständen entwickeln, wo sich nur
die Menschheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf
und zu den Füßen des Menschen in dem Embryon sind
Anlagen, die nicht zurückgehalten werden können, wenn
nicht die ganze Entwickelung zurückbleiben soll. Und
so verhält es sich im Durchschnitt bey den Anlagen zu
den gewöhnlichen Sinngliedern, obgleich in Hinsicht
dieser letztern die Ausnahmen schon häufiger sind. Aber
der Menschenfresser und der Otaheite, und so viele an-
dere uns bekannt gewordene Völker, ja wir dürfen nicht
so weit gehen, da wir unsere eigene Kinder vor Augen

haben,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lagen nicht die beſondern angebornen Gefuͤhle
und Vermoͤgen ſeyn?
Man mag dieſem Einwurf
ſo viel oder ſo wenig Kraft zuſchreiben, als man wolle:
ſo ſiehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei-
diger des pſychologiſchen Evolutionsſyſtems ſich aus dem
Gedraͤnge der Beobachtungen und der Zergliederungen
der Seele, die man ihm entgegenſtellet, herauswickeln
kann.

6.

Aber wenn nun gleich hieruͤber das Wenigſte entſchie-
den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo-
gie mit der Entwickelungsart der koͤrperlichen Vermoͤ-
gen, von der es auch noch an einem voͤllig beſtimm-
ten Begriffe fehlet: ſo laͤßt ſich doch etwas feſtſetzen,
und zwar ſo viel als zu den praktiſchen Folgerungen hin-
reichet, um deren willen man die Frage beſonders in
Hinſicht der moraliſchen Gefuͤhle: ob Natur oder
Erziehung ſie hervorbringe? ſo ſcharf unterſucht hat.
Denn

1) lehret die Erfahrung ſo viel: worinn auch
das angeborne Gefuͤhl der Schoͤnheit, der Tugend und
des Anſtandes beſtehen mag, ſo kann ſolches doch nicht
zu ſolchen Naturanlagen gerechnet werden, die ſich von
ſelbſt
unter allen Umſtaͤnden entwickeln, wo ſich nur
die Menſchheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf
und zu den Fuͤßen des Menſchen in dem Embryon ſind
Anlagen, die nicht zuruͤckgehalten werden koͤnnen, wenn
nicht die ganze Entwickelung zuruͤckbleiben ſoll. Und
ſo verhaͤlt es ſich im Durchſchnitt bey den Anlagen zu
den gewoͤhnlichen Sinngliedern, obgleich in Hinſicht
dieſer letztern die Ausnahmen ſchon haͤufiger ſind. Aber
der Menſchenfreſſer und der Otaheite, und ſo viele an-
dere uns bekannt gewordene Voͤlker, ja wir duͤrfen nicht
ſo weit gehen, da wir unſere eigene Kinder vor Augen

haben,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0472" n="442"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">lagen nicht die be&#x017F;ondern angebornen Gefu&#x0364;hle<lb/>
und Vermo&#x0364;gen &#x017F;eyn?</hi> Man mag die&#x017F;em Einwurf<lb/>
&#x017F;o viel oder &#x017F;o wenig Kraft zu&#x017F;chreiben, als man wolle:<lb/>
&#x017F;o &#x017F;iehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei-<lb/>
diger des p&#x017F;ychologi&#x017F;chen Evolutions&#x017F;y&#x017F;tems &#x017F;ich aus dem<lb/>
Gedra&#x0364;nge der Beobachtungen und der Zergliederungen<lb/>
der Seele, die man ihm entgegen&#x017F;tellet, herauswickeln<lb/>
kann.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>6.</head><lb/>
              <p>Aber wenn nun gleich hieru&#x0364;ber das Wenig&#x017F;te ent&#x017F;chie-<lb/>
den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo-<lb/>
gie mit der Entwickelungsart der ko&#x0364;rperlichen Vermo&#x0364;-<lb/>
gen, von der es auch noch an einem vo&#x0364;llig be&#x017F;timm-<lb/>
ten Begriffe fehlet: &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich doch etwas fe&#x017F;t&#x017F;etzen,<lb/>
und zwar &#x017F;o viel als zu den prakti&#x017F;chen Folgerungen hin-<lb/>
reichet, um deren willen man die Frage be&#x017F;onders in<lb/>
Hin&#x017F;icht der <hi rendition="#fr">morali&#x017F;chen Gefu&#x0364;hle:</hi> ob Natur oder<lb/>
Erziehung &#x017F;ie hervorbringe? &#x017F;o &#x017F;charf unter&#x017F;ucht hat.<lb/>
Denn</p><lb/>
              <p>1) lehret die Erfahrung &#x017F;o viel: worinn auch<lb/>
das angeborne Gefu&#x0364;hl der Scho&#x0364;nheit, der Tugend und<lb/>
des An&#x017F;tandes be&#x017F;tehen mag, &#x017F;o kann &#x017F;olches doch nicht<lb/>
zu &#x017F;olchen Naturanlagen gerechnet werden, die <hi rendition="#fr">&#x017F;ich von<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t</hi> unter allen Um&#x017F;ta&#x0364;nden entwickeln, wo &#x017F;ich nur<lb/>
die Men&#x017F;chheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf<lb/>
und zu den Fu&#x0364;ßen des Men&#x017F;chen in dem Embryon &#x017F;ind<lb/>
Anlagen, die nicht zuru&#x0364;ckgehalten werden ko&#x0364;nnen, wenn<lb/>
nicht die ganze Entwickelung zuru&#x0364;ckbleiben &#x017F;oll. Und<lb/>
&#x017F;o verha&#x0364;lt es &#x017F;ich im Durch&#x017F;chnitt bey den Anlagen zu<lb/>
den gewo&#x0364;hnlichen Sinngliedern, obgleich in Hin&#x017F;icht<lb/>
die&#x017F;er letztern die Ausnahmen &#x017F;chon ha&#x0364;ufiger &#x017F;ind. Aber<lb/>
der Men&#x017F;chenfre&#x017F;&#x017F;er und der Otaheite, und &#x017F;o viele an-<lb/>
dere uns bekannt gewordene Vo&#x0364;lker, ja wir du&#x0364;rfen nicht<lb/>
&#x017F;o weit gehen, da wir un&#x017F;ere eigene Kinder vor Augen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">haben,</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0472] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt lagen nicht die beſondern angebornen Gefuͤhle und Vermoͤgen ſeyn? Man mag dieſem Einwurf ſo viel oder ſo wenig Kraft zuſchreiben, als man wolle: ſo ſiehet man doch den Ausweg, durch den der Verthei- diger des pſychologiſchen Evolutionsſyſtems ſich aus dem Gedraͤnge der Beobachtungen und der Zergliederungen der Seele, die man ihm entgegenſtellet, herauswickeln kann. 6. Aber wenn nun gleich hieruͤber das Wenigſte entſchie- den werden kann, oder nicht anders als aus der Analo- gie mit der Entwickelungsart der koͤrperlichen Vermoͤ- gen, von der es auch noch an einem voͤllig beſtimm- ten Begriffe fehlet: ſo laͤßt ſich doch etwas feſtſetzen, und zwar ſo viel als zu den praktiſchen Folgerungen hin- reichet, um deren willen man die Frage beſonders in Hinſicht der moraliſchen Gefuͤhle: ob Natur oder Erziehung ſie hervorbringe? ſo ſcharf unterſucht hat. Denn 1) lehret die Erfahrung ſo viel: worinn auch das angeborne Gefuͤhl der Schoͤnheit, der Tugend und des Anſtandes beſtehen mag, ſo kann ſolches doch nicht zu ſolchen Naturanlagen gerechnet werden, die ſich von ſelbſt unter allen Umſtaͤnden entwickeln, wo ſich nur die Menſchheit entwickelt. Die Anlagen zu dem Kopf und zu den Fuͤßen des Menſchen in dem Embryon ſind Anlagen, die nicht zuruͤckgehalten werden koͤnnen, wenn nicht die ganze Entwickelung zuruͤckbleiben ſoll. Und ſo verhaͤlt es ſich im Durchſchnitt bey den Anlagen zu den gewoͤhnlichen Sinngliedern, obgleich in Hinſicht dieſer letztern die Ausnahmen ſchon haͤufiger ſind. Aber der Menſchenfreſſer und der Otaheite, und ſo viele an- dere uns bekannt gewordene Voͤlker, ja wir duͤrfen nicht ſo weit gehen, da wir unſere eigene Kinder vor Augen haben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/472
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/472>, abgerufen am 21.11.2024.