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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
zu thun hat, eben das ist, was ihm bey andern so leicht
und geläufig war: so scheinen dieß Erfahrungen zu seyn,
welche den Gedanken bestätigen, daß alle Seelenfertig-
keiten bloß in Fertigkeiten bestehen, Jdeen und Jdeen-
reihen von gewissen Sachen zu erwecken. Wenigstens
scheinen jene Erscheinungen aus dieser Voraussetzung
am leichtesten erklärt zu werden. Man bringe den Geo-
meter bey das Schachspiel, lehre ihn die Grundsätze des
Spiels, und lasse ihn ziehen: wie viel wird er, seiner
Gewohnheit dergleichen Ueberlegungen zu machen ohn-
erachtet, im Anfange klüger ziehen, und wie weniger
sich versehen, als jedweder Anfänger von gutem natür-
lichen Verstande? Dagegen es Virtuosen im Schach-
spiele giebt, die in ihren übrigen Handlungen und Ur-
theilen keine hervorragende Verstandeskräfte beweisen.
Mir ist das Exempel von einem Menschen bekannt, der
durch seinen anhaltenden Fleiß in der Algeber fortkam,
ob er gleich sonsten eine so mittelmäßige Fassungskraft
besaß, daß er eher unter die Stumpfköpfe als unter die
Genies hätte gezählt werden müssen.

Häufiger sind die Beyspiele, wo Fertigkeiten von
andern getrennt sind, in denen die Wirkungsarten nicht
dieselbigen, sondern nur mit einander verwandt sind;
wo eine etwas unterschiedene Art der Thätigkeit zu ihnen
erfodert wird, obgleich das in beiden geschäfftige
Grundvermögen der Seele noch eben dasselbige ist. Der
Gelehrte kann am Verstande hervorragen, ohne daß
seine Empfindsamkeit in gleichem Maße verfeinert sey;
und nur zu oft ist die Bemerkung, die Hume über den
großen Bacon gemacht hat, auch auf andere anpassend,
daß ein tief eindringender Verstand und Stärke des
Geistes und des Herzens, woraus Muth und Thätig-
keit in äußern Handlungen entspringen, voneinander
getrennet sind. Der Mann von feinem Verstande be-
sitzt noch lange nicht den Geist des Mannes in Geschäf-

ten,

und Entwickelung des Menſchen.
zu thun hat, eben das iſt, was ihm bey andern ſo leicht
und gelaͤufig war: ſo ſcheinen dieß Erfahrungen zu ſeyn,
welche den Gedanken beſtaͤtigen, daß alle Seelenfertig-
keiten bloß in Fertigkeiten beſtehen, Jdeen und Jdeen-
reihen von gewiſſen Sachen zu erwecken. Wenigſtens
ſcheinen jene Erſcheinungen aus dieſer Vorausſetzung
am leichteſten erklaͤrt zu werden. Man bringe den Geo-
meter bey das Schachſpiel, lehre ihn die Grundſaͤtze des
Spiels, und laſſe ihn ziehen: wie viel wird er, ſeiner
Gewohnheit dergleichen Ueberlegungen zu machen ohn-
erachtet, im Anfange kluͤger ziehen, und wie weniger
ſich verſehen, als jedweder Anfaͤnger von gutem natuͤr-
lichen Verſtande? Dagegen es Virtuoſen im Schach-
ſpiele giebt, die in ihren uͤbrigen Handlungen und Ur-
theilen keine hervorragende Verſtandeskraͤfte beweiſen.
Mir iſt das Exempel von einem Menſchen bekannt, der
durch ſeinen anhaltenden Fleiß in der Algeber fortkam,
ob er gleich ſonſten eine ſo mittelmaͤßige Faſſungskraft
beſaß, daß er eher unter die Stumpfkoͤpfe als unter die
Genies haͤtte gezaͤhlt werden muͤſſen.

Haͤufiger ſind die Beyſpiele, wo Fertigkeiten von
andern getrennt ſind, in denen die Wirkungsarten nicht
dieſelbigen, ſondern nur mit einander verwandt ſind;
wo eine etwas unterſchiedene Art der Thaͤtigkeit zu ihnen
erfodert wird, obgleich das in beiden geſchaͤfftige
Grundvermoͤgen der Seele noch eben daſſelbige iſt. Der
Gelehrte kann am Verſtande hervorragen, ohne daß
ſeine Empfindſamkeit in gleichem Maße verfeinert ſey;
und nur zu oft iſt die Bemerkung, die Hume uͤber den
großen Bacon gemacht hat, auch auf andere anpaſſend,
daß ein tief eindringender Verſtand und Staͤrke des
Geiſtes und des Herzens, woraus Muth und Thaͤtig-
keit in aͤußern Handlungen entſpringen, voneinander
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[383/0413] und Entwickelung des Menſchen. zu thun hat, eben das iſt, was ihm bey andern ſo leicht und gelaͤufig war: ſo ſcheinen dieß Erfahrungen zu ſeyn, welche den Gedanken beſtaͤtigen, daß alle Seelenfertig- keiten bloß in Fertigkeiten beſtehen, Jdeen und Jdeen- reihen von gewiſſen Sachen zu erwecken. Wenigſtens ſcheinen jene Erſcheinungen aus dieſer Vorausſetzung am leichteſten erklaͤrt zu werden. Man bringe den Geo- meter bey das Schachſpiel, lehre ihn die Grundſaͤtze des Spiels, und laſſe ihn ziehen: wie viel wird er, ſeiner Gewohnheit dergleichen Ueberlegungen zu machen ohn- erachtet, im Anfange kluͤger ziehen, und wie weniger ſich verſehen, als jedweder Anfaͤnger von gutem natuͤr- lichen Verſtande? Dagegen es Virtuoſen im Schach- ſpiele giebt, die in ihren uͤbrigen Handlungen und Ur- theilen keine hervorragende Verſtandeskraͤfte beweiſen. Mir iſt das Exempel von einem Menſchen bekannt, der durch ſeinen anhaltenden Fleiß in der Algeber fortkam, ob er gleich ſonſten eine ſo mittelmaͤßige Faſſungskraft beſaß, daß er eher unter die Stumpfkoͤpfe als unter die Genies haͤtte gezaͤhlt werden muͤſſen. Haͤufiger ſind die Beyſpiele, wo Fertigkeiten von andern getrennt ſind, in denen die Wirkungsarten nicht dieſelbigen, ſondern nur mit einander verwandt ſind; wo eine etwas unterſchiedene Art der Thaͤtigkeit zu ihnen erfodert wird, obgleich das in beiden geſchaͤfftige Grundvermoͤgen der Seele noch eben daſſelbige iſt. Der Gelehrte kann am Verſtande hervorragen, ohne daß ſeine Empfindſamkeit in gleichem Maße verfeinert ſey; und nur zu oft iſt die Bemerkung, die Hume uͤber den großen Bacon gemacht hat, auch auf andere anpaſſend, daß ein tief eindringender Verſtand und Staͤrke des Geiſtes und des Herzens, woraus Muth und Thaͤtig- keit in aͤußern Handlungen entſpringen, voneinander getrennet ſind. Der Mann von feinem Verſtande be- ſitzt noch lange nicht den Geiſt des Mannes in Geſchaͤf- ten,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/413>, abgerufen am 22.11.2024.