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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
lich aber aus den Nachrichten der Reisenden gesammelt
würde. Unsere Schlüsse sind noch nicht Geschichte.
Eine Sammlung von den letztern allein wäre darum zu
wünschen, weil jetzo viele und große Werke durch-
zusehen sind, um die Quelle zu haben, wozu man
doch nothwendig zurück muß, wenn man die Mensch-
heit in ihren Gestalten mit eigenen, nicht durch fremde
Augen sehen will.

Meine Absicht ist hier einige Betrachtungen über
die entwickelte menschliche Natur vorzulegen, die entwe-
der aus der Geschichte der Menschheit geradezu genom-
men werden können, oder wenn sie aus psychologischen
Gründen haben geschlossen werden müssen, doch durch
die Geschichte bestätiget werden. Wenn man die ver-
schiedenen Formen, die der Mensch annimmt, verglei-
chet, und besonders soll hier nur auf die Formen seiner
Seelennatur gesehen werden, so müssen uns die Fragen
auffallen: was ist doch wohl der innere Mensch in al-
len diesen verschiedenen Modifikationen? Wie weit geht
ihre Verschiedenheit? Dringt solche bis auf die Natur
und ihre Grundkräfte? Was nehmen diese an, was
bekommen sie? Werden sie erhöhet, gestärkt, verfei-
nert; oder erniedriget, geschwächet, gestumpfet? Er-
halten sie etwas Bleibendes, wenn Fertigkeiten erzeuget
werden; oder ist alles, was durch die Entwickelung
hinzukommt, nur eine Bekleidung mit einer äußern Hül-
se, die, wenn sie wiederum abfällt, die Grundkraft
in demselbigen Zustande zurückläßt, wie sie vorher war?
Sind es bleibende innere Beschaffenheiten? Bestehen sie
denn in Realitäten oder in Mängeln, in Verbesserun-
gen oder Verschlimmerungen der Natur? Was hat
eine Form hierinn vor der andern voraus? Jst so zu
sagen weniger Menschheit in dem Menschen, der ein
Neuseeländer ist, als in dem Jndividuum, das zu den
aufgeklärten Britten gehört? Und wenn das Wohl

und
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und Entwickelung des Menſchen.
lich aber aus den Nachrichten der Reiſenden geſammelt
wuͤrde. Unſere Schluͤſſe ſind noch nicht Geſchichte.
Eine Sammlung von den letztern allein waͤre darum zu
wuͤnſchen, weil jetzo viele und große Werke durch-
zuſehen ſind, um die Quelle zu haben, wozu man
doch nothwendig zuruͤck muß, wenn man die Menſch-
heit in ihren Geſtalten mit eigenen, nicht durch fremde
Augen ſehen will.

Meine Abſicht iſt hier einige Betrachtungen uͤber
die entwickelte menſchliche Natur vorzulegen, die entwe-
der aus der Geſchichte der Menſchheit geradezu genom-
men werden koͤnnen, oder wenn ſie aus pſychologiſchen
Gruͤnden haben geſchloſſen werden muͤſſen, doch durch
die Geſchichte beſtaͤtiget werden. Wenn man die ver-
ſchiedenen Formen, die der Menſch annimmt, verglei-
chet, und beſonders ſoll hier nur auf die Formen ſeiner
Seelennatur geſehen werden, ſo muͤſſen uns die Fragen
auffallen: was iſt doch wohl der innere Menſch in al-
len dieſen verſchiedenen Modifikationen? Wie weit geht
ihre Verſchiedenheit? Dringt ſolche bis auf die Natur
und ihre Grundkraͤfte? Was nehmen dieſe an, was
bekommen ſie? Werden ſie erhoͤhet, geſtaͤrkt, verfei-
nert; oder erniedriget, geſchwaͤchet, geſtumpfet? Er-
halten ſie etwas Bleibendes, wenn Fertigkeiten erzeuget
werden; oder iſt alles, was durch die Entwickelung
hinzukommt, nur eine Bekleidung mit einer aͤußern Huͤl-
ſe, die, wenn ſie wiederum abfaͤllt, die Grundkraft
in demſelbigen Zuſtande zuruͤcklaͤßt, wie ſie vorher war?
Sind es bleibende innere Beſchaffenheiten? Beſtehen ſie
denn in Realitaͤten oder in Maͤngeln, in Verbeſſerun-
gen oder Verſchlimmerungen der Natur? Was hat
eine Form hierinn vor der andern voraus? Jſt ſo zu
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Neuſeelaͤnder iſt, als in dem Jndividuum, das zu den
aufgeklaͤrten Britten gehoͤrt? Und wenn das Wohl

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[371/0401] und Entwickelung des Menſchen. lich aber aus den Nachrichten der Reiſenden geſammelt wuͤrde. Unſere Schluͤſſe ſind noch nicht Geſchichte. Eine Sammlung von den letztern allein waͤre darum zu wuͤnſchen, weil jetzo viele und große Werke durch- zuſehen ſind, um die Quelle zu haben, wozu man doch nothwendig zuruͤck muß, wenn man die Menſch- heit in ihren Geſtalten mit eigenen, nicht durch fremde Augen ſehen will. Meine Abſicht iſt hier einige Betrachtungen uͤber die entwickelte menſchliche Natur vorzulegen, die entwe- der aus der Geſchichte der Menſchheit geradezu genom- men werden koͤnnen, oder wenn ſie aus pſychologiſchen Gruͤnden haben geſchloſſen werden muͤſſen, doch durch die Geſchichte beſtaͤtiget werden. Wenn man die ver- ſchiedenen Formen, die der Menſch annimmt, verglei- chet, und beſonders ſoll hier nur auf die Formen ſeiner Seelennatur geſehen werden, ſo muͤſſen uns die Fragen auffallen: was iſt doch wohl der innere Menſch in al- len dieſen verſchiedenen Modifikationen? Wie weit geht ihre Verſchiedenheit? Dringt ſolche bis auf die Natur und ihre Grundkraͤfte? Was nehmen dieſe an, was bekommen ſie? Werden ſie erhoͤhet, geſtaͤrkt, verfei- nert; oder erniedriget, geſchwaͤchet, geſtumpfet? Er- halten ſie etwas Bleibendes, wenn Fertigkeiten erzeuget werden; oder iſt alles, was durch die Entwickelung hinzukommt, nur eine Bekleidung mit einer aͤußern Huͤl- ſe, die, wenn ſie wiederum abfaͤllt, die Grundkraft in demſelbigen Zuſtande zuruͤcklaͤßt, wie ſie vorher war? Sind es bleibende innere Beſchaffenheiten? Beſtehen ſie denn in Realitaͤten oder in Maͤngeln, in Verbeſſerun- gen oder Verſchlimmerungen der Natur? Was hat eine Form hierinn vor der andern voraus? Jſt ſo zu ſagen weniger Menſchheit in dem Menſchen, der ein Neuſeelaͤnder iſt, als in dem Jndividuum, das zu den aufgeklaͤrten Britten gehoͤrt? Und wenn das Wohl und A a 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/401>, abgerufen am 22.11.2024.