nen, wenn es ihm gefällig wäre. Aber eine physische Kraft zwinget ihn, und wenn er wollte, würde er sich in dem Wachen nicht erhalten können.
Jn solchen nur seltenen Beyspielen sollte eine Kraft liegen, die das Zeugniß der innern Empfindung, das ich von einem Vermögen in mir habe, das Gegentheil von dem thun zu können, was ich wirklich verrichte, un- zuverläßig und verwerflich machen könnte? Der optische Schein hat mich betrogen, und für einen soliden leben- den Körper ansehen lassen, was nichts als ein Gemähl- de auf einer Fläche war, deswegen sollte ich nach ver- nünftigen Denkgesetzen fürchten müssen, daß ich nun auch hintergangen würde, wenn ich auf dem Tische vor mir ein Buch liegen zu sehen vermeine, ob ich gleich das Zeugniß eines andern Sinnes, des Gefühls, in diesem Falle noch nicht zur Bestätigung meiner Meinung zu Hülfe genommen habe? Doch ich will den Philosophen, gegen welche ich hier rede, Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Solche Beyspiele sollen nur zeigen, daß die Em- pfindung trügen könne; denn daß sie wirklich durchge- hends trüge, haben sie durch andere Gründe, durch ei- ne vermeintliche innere Unmöglichkeit in der Sache selbst, die aus metaphysischen Grundsätzen hergeholet wird, er- weisen wollen. Es wird also der Beweis aus der Er- fahrung dadurch noch nicht unthunlich. Berkeley rai- sonnirte die Wirklichkeit der Körperwelt weg, und dar- auf verwarf er die Aussage der Empfindung. Ohne Rücksicht auf die Gültigkeit oder Ungültigkeit seiner Spe- kulationen, könnte doch ein Unterschied zwischen wahren und bloß scheinbaren Empfindungen gemacht, und jene von diesen ausgekannt werden. Berkeley kannte selbst diesen Unterschied so gut, wie irgend jemand. War- um sollte nicht das Nämliche in dem gegenwärtigen Falle geschehen können? Wir sind ein und das andere mal zu voreilig gewesen, und haben uns durch eine unächte Em-
pfindung
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nen, wenn es ihm gefaͤllig waͤre. Aber eine phyſiſche Kraft zwinget ihn, und wenn er wollte, wuͤrde er ſich in dem Wachen nicht erhalten koͤnnen.
Jn ſolchen nur ſeltenen Beyſpielen ſollte eine Kraft liegen, die das Zeugniß der innern Empfindung, das ich von einem Vermoͤgen in mir habe, das Gegentheil von dem thun zu koͤnnen, was ich wirklich verrichte, un- zuverlaͤßig und verwerflich machen koͤnnte? Der optiſche Schein hat mich betrogen, und fuͤr einen ſoliden leben- den Koͤrper anſehen laſſen, was nichts als ein Gemaͤhl- de auf einer Flaͤche war, deswegen ſollte ich nach ver- nuͤnftigen Denkgeſetzen fuͤrchten muͤſſen, daß ich nun auch hintergangen wuͤrde, wenn ich auf dem Tiſche vor mir ein Buch liegen zu ſehen vermeine, ob ich gleich das Zeugniß eines andern Sinnes, des Gefuͤhls, in dieſem Falle noch nicht zur Beſtaͤtigung meiner Meinung zu Huͤlfe genommen habe? Doch ich will den Philoſophen, gegen welche ich hier rede, Gerechtigkeit wiederfahren laſſen. Solche Beyſpiele ſollen nur zeigen, daß die Em- pfindung truͤgen koͤnne; denn daß ſie wirklich durchge- hends truͤge, haben ſie durch andere Gruͤnde, durch ei- ne vermeintliche innere Unmoͤglichkeit in der Sache ſelbſt, die aus metaphyſiſchen Grundſaͤtzen hergeholet wird, er- weiſen wollen. Es wird alſo der Beweis aus der Er- fahrung dadurch noch nicht unthunlich. Berkeley rai- ſonnirte die Wirklichkeit der Koͤrperwelt weg, und dar- auf verwarf er die Ausſage der Empfindung. Ohne Ruͤckſicht auf die Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit ſeiner Spe- kulationen, koͤnnte doch ein Unterſchied zwiſchen wahren und bloß ſcheinbaren Empfindungen gemacht, und jene von dieſen ausgekannt werden. Berkeley kannte ſelbſt dieſen Unterſchied ſo gut, wie irgend jemand. War- um ſollte nicht das Naͤmliche in dem gegenwaͤrtigen Falle geſchehen koͤnnen? Wir ſind ein und das andere mal zu voreilig geweſen, und haben uns durch eine unaͤchte Em-
pfindung
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nen, wenn es ihm gefaͤllig waͤre. Aber eine phyſiſche
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in dem Wachen nicht erhalten koͤnnen.
Jn ſolchen nur ſeltenen Beyſpielen ſollte eine Kraft
liegen, die das Zeugniß der innern Empfindung, das
ich von einem Vermoͤgen in mir habe, das Gegentheil
von dem thun zu koͤnnen, was ich wirklich verrichte, un-
zuverlaͤßig und verwerflich machen koͤnnte? Der optiſche
Schein hat mich betrogen, und fuͤr einen ſoliden leben-
den Koͤrper anſehen laſſen, was nichts als ein Gemaͤhl-
de auf einer Flaͤche war, deswegen ſollte ich nach ver-
nuͤnftigen Denkgeſetzen fuͤrchten muͤſſen, daß ich nun
auch hintergangen wuͤrde, wenn ich auf dem Tiſche vor
mir ein Buch liegen zu ſehen vermeine, ob ich gleich das
Zeugniß eines andern Sinnes, des Gefuͤhls, in dieſem
Falle noch nicht zur Beſtaͤtigung meiner Meinung zu
Huͤlfe genommen habe? Doch ich will den Philoſophen,
gegen welche ich hier rede, Gerechtigkeit wiederfahren
laſſen. Solche Beyſpiele ſollen nur zeigen, daß die Em-
pfindung truͤgen koͤnne; denn daß ſie wirklich durchge-
hends truͤge, haben ſie durch andere Gruͤnde, durch ei-
ne vermeintliche innere Unmoͤglichkeit in der Sache ſelbſt,
die aus metaphyſiſchen Grundſaͤtzen hergeholet wird, er-
weiſen wollen. Es wird alſo der Beweis aus der Er-
fahrung dadurch noch nicht unthunlich. Berkeley rai-
ſonnirte die Wirklichkeit der Koͤrperwelt weg, und dar-
auf verwarf er die Ausſage der Empfindung. Ohne
Ruͤckſicht auf die Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit ſeiner Spe-
kulationen, koͤnnte doch ein Unterſchied zwiſchen wahren
und bloß ſcheinbaren Empfindungen gemacht, und jene
von dieſen ausgekannt werden. Berkeley kannte ſelbſt
dieſen Unterſchied ſo gut, wie irgend jemand. War-
um ſollte nicht das Naͤmliche in dem gegenwaͤrtigen Falle
geſchehen koͤnnen? Wir ſind ein und das andere mal zu
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/40>, abgerufen am 21.11.2024.
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