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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
fertigkeit verloschen ist, ob sie gleich den Mangel der
letztern nicht vollkommen ersetzen kann. Ein Tonkünst-
ler hatte das Gehör im Alter verloren, und spielte des-
wegen doch so richtig, als wenn er hörte. Dieß that
die innere Geschicklichkeit seiner Vorstellungskraft, wel-
che die äußern Jmpressionen zum Theil entbehrlich
machte.

Kann man nicht hieraus noch weiter diese Folge
ziehen, daß unser im Vorstellen, Denken und Wir-
ken fertig gewordnes Jch auch in dem Fall, wenn ihm
sein gebrauchtes Organ entzogen und ein andres dafür
gegeben würde, dem die Dispositionen des erstern fehlen,
sonsten aber von eben so beugsamer Natur ist sie anzu-
nehmen; daß, sage ich, alsdenn unser Jch in dieß neue
Organ seinen Fertigkeiten gemäß wirken und sich solches
bald wiederum, so wie das vorige, einrichten würde? Ein
Mensch ohne Hände wußte durch einen geschickten Ge-
brauch seiner beiden abgestumpften Arme, die er nahe
aneinander bringen konnte zierlich zu schreiben und so
gar Federn zu schneiden. Es würde nicht unmöglich
seyn, daß ein Virtuos mit den Füßen auf dem Klavier
spielen lernte. Diese Beyspiele bestätigen den obigen
analogischen Schluß.

Man konnte bey einer Schwierigkeit anstoßen.
Der Spieler kann sich doch immer seiner vormals ge-
spielten Stücke erinnern, ob er gleich, wenn ihn der
Körper verläßt, nicht spielen kann. Müßte die Seele,
wenn das Gehirn ihr auch nicht zu Hülfe kommt, den-
noch bey ihren eigenen intellektuellen Jdeen nicht dassel-
bige vornehmen können? und erfodert nicht die Analo-
gie, daß sie es könne? Aber alsdenn könnte das Ge-
dächtniß nicht so sehr von dem Körper abhängig seyn,
wie die Erfahrung lehrt, daß es wirklich ist.

Jch antworte zuerst, die Analogie erfodere dieß
nicht, sondern vielmehr das Gegentheil. Man muß

die

im Menſchen.
fertigkeit verloſchen iſt, ob ſie gleich den Mangel der
letztern nicht vollkommen erſetzen kann. Ein Tonkuͤnſt-
ler hatte das Gehoͤr im Alter verloren, und ſpielte des-
wegen doch ſo richtig, als wenn er hoͤrte. Dieß that
die innere Geſchicklichkeit ſeiner Vorſtellungskraft, wel-
che die aͤußern Jmpreſſionen zum Theil entbehrlich
machte.

Kann man nicht hieraus noch weiter dieſe Folge
ziehen, daß unſer im Vorſtellen, Denken und Wir-
ken fertig gewordnes Jch auch in dem Fall, wenn ihm
ſein gebrauchtes Organ entzogen und ein andres dafuͤr
gegeben wuͤrde, dem die Diſpoſitionen des erſtern fehlen,
ſonſten aber von eben ſo beugſamer Natur iſt ſie anzu-
nehmen; daß, ſage ich, alsdenn unſer Jch in dieß neue
Organ ſeinen Fertigkeiten gemaͤß wirken und ſich ſolches
bald wiederum, ſo wie das vorige, einrichten wuͤrde? Ein
Menſch ohne Haͤnde wußte durch einen geſchickten Ge-
brauch ſeiner beiden abgeſtumpften Arme, die er nahe
aneinander bringen konnte zierlich zu ſchreiben und ſo
gar Federn zu ſchneiden. Es wuͤrde nicht unmoͤglich
ſeyn, daß ein Virtuos mit den Fuͤßen auf dem Klavier
ſpielen lernte. Dieſe Beyſpiele beſtaͤtigen den obigen
analogiſchen Schluß.

Man konnte bey einer Schwierigkeit anſtoßen.
Der Spieler kann ſich doch immer ſeiner vormals ge-
ſpielten Stuͤcke erinnern, ob er gleich, wenn ihn der
Koͤrper verlaͤßt, nicht ſpielen kann. Muͤßte die Seele,
wenn das Gehirn ihr auch nicht zu Huͤlfe kommt, den-
noch bey ihren eigenen intellektuellen Jdeen nicht daſſel-
bige vornehmen koͤnnen? und erfodert nicht die Analo-
gie, daß ſie es koͤnne? Aber alsdenn koͤnnte das Ge-
daͤchtniß nicht ſo ſehr von dem Koͤrper abhaͤngig ſeyn,
wie die Erfahrung lehrt, daß es wirklich iſt.

Jch antworte zuerſt, die Analogie erfodere dieß
nicht, ſondern vielmehr das Gegentheil. Man muß

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[363/0393] im Menſchen. fertigkeit verloſchen iſt, ob ſie gleich den Mangel der letztern nicht vollkommen erſetzen kann. Ein Tonkuͤnſt- ler hatte das Gehoͤr im Alter verloren, und ſpielte des- wegen doch ſo richtig, als wenn er hoͤrte. Dieß that die innere Geſchicklichkeit ſeiner Vorſtellungskraft, wel- che die aͤußern Jmpreſſionen zum Theil entbehrlich machte. Kann man nicht hieraus noch weiter dieſe Folge ziehen, daß unſer im Vorſtellen, Denken und Wir- ken fertig gewordnes Jch auch in dem Fall, wenn ihm ſein gebrauchtes Organ entzogen und ein andres dafuͤr gegeben wuͤrde, dem die Diſpoſitionen des erſtern fehlen, ſonſten aber von eben ſo beugſamer Natur iſt ſie anzu- nehmen; daß, ſage ich, alsdenn unſer Jch in dieß neue Organ ſeinen Fertigkeiten gemaͤß wirken und ſich ſolches bald wiederum, ſo wie das vorige, einrichten wuͤrde? Ein Menſch ohne Haͤnde wußte durch einen geſchickten Ge- brauch ſeiner beiden abgeſtumpften Arme, die er nahe aneinander bringen konnte zierlich zu ſchreiben und ſo gar Federn zu ſchneiden. Es wuͤrde nicht unmoͤglich ſeyn, daß ein Virtuos mit den Fuͤßen auf dem Klavier ſpielen lernte. Dieſe Beyſpiele beſtaͤtigen den obigen analogiſchen Schluß. Man konnte bey einer Schwierigkeit anſtoßen. Der Spieler kann ſich doch immer ſeiner vormals ge- ſpielten Stuͤcke erinnern, ob er gleich, wenn ihn der Koͤrper verlaͤßt, nicht ſpielen kann. Muͤßte die Seele, wenn das Gehirn ihr auch nicht zu Huͤlfe kommt, den- noch bey ihren eigenen intellektuellen Jdeen nicht daſſel- bige vornehmen koͤnnen? und erfodert nicht die Analo- gie, daß ſie es koͤnne? Aber alsdenn koͤnnte das Ge- daͤchtniß nicht ſo ſehr von dem Koͤrper abhaͤngig ſeyn, wie die Erfahrung lehrt, daß es wirklich iſt. Jch antworte zuerſt, die Analogie erfodere dieß nicht, ſondern vielmehr das Gegentheil. Man muß die

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/393>, abgerufen am 20.05.2024.