Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
sich allein betrachtet, eine willkürliche Bewegung
sey, die durch eine Aktion der Seele auf den Körper,
wenn die Vorstellung von der Bewegung gegenwärtig
ist, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber
nicht, wenn sie gleich auch sonsten unter andern Umstän-
den durch eine bloß im Körper liegende Ursache gewir-
ket wird. Jn konvulsivischen Krankheiten erfolgen oft
ähnliche Bewegungen des Körpers, der Füße und der
Hände, wie die willkürlichen sind; aber dennoch hängt
das Springen des gesunden Menschen von der Eigen-
macht und der Willkür der Seele ab.

Einige von solchen willkürlichen Bewegungsreihen
haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar sim-
ple Vorstellungen in der Seele, zu ihrer Association erfo-
dert. Der Mensch ist hungrig; ihm wird eine Speise
vorgesetzt, die ihm schmecket. Von dieser Speise em-
pfängt er eine Vorstellung, und in einem ähnlichen Falle
strecket er die Hand nach ihr zuerst hin. Eine Vorstel-
lung, die aus der vorigen Empfindung zurückgeblieben
war, ohne eine weitere Selbstthätigkeit der vorstellen-
den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet
hin das Gelenk auszumachen, welches die besondern
Theile der ganzen Reihe zusammenbringet.

Es giebt andere, in welchen die erste Anreihung
eine geflissentliche Ausmerksamkeit und eine sehr merk-
liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es sind
klare und deutliche Vorstellungen, Vergleichungen, Fol-
gerungen und Raisonnements erfodert worden, ehe die
Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen,
Fechten und dergleichen erlanget sind. Aus diesen letz-
tern kann man die Beyspiele nehmen, wenn man sehen
will, was in solchen enthalten ist, die am meisten will-
kürlich sind.

10. Die-

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſich allein betrachtet, eine willkuͤrliche Bewegung
ſey, die durch eine Aktion der Seele auf den Koͤrper,
wenn die Vorſtellung von der Bewegung gegenwaͤrtig
iſt, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber
nicht, wenn ſie gleich auch ſonſten unter andern Umſtaͤn-
den durch eine bloß im Koͤrper liegende Urſache gewir-
ket wird. Jn konvulſiviſchen Krankheiten erfolgen oft
aͤhnliche Bewegungen des Koͤrpers, der Fuͤße und der
Haͤnde, wie die willkuͤrlichen ſind; aber dennoch haͤngt
das Springen des geſunden Menſchen von der Eigen-
macht und der Willkuͤr der Seele ab.

Einige von ſolchen willkuͤrlichen Bewegungsreihen
haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar ſim-
ple Vorſtellungen in der Seele, zu ihrer Aſſociation erfo-
dert. Der Menſch iſt hungrig; ihm wird eine Speiſe
vorgeſetzt, die ihm ſchmecket. Von dieſer Speiſe em-
pfaͤngt er eine Vorſtellung, und in einem aͤhnlichen Falle
ſtrecket er die Hand nach ihr zuerſt hin. Eine Vorſtel-
lung, die aus der vorigen Empfindung zuruͤckgeblieben
war, ohne eine weitere Selbſtthaͤtigkeit der vorſtellen-
den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet
hin das Gelenk auszumachen, welches die beſondern
Theile der ganzen Reihe zuſammenbringet.

Es giebt andere, in welchen die erſte Anreihung
eine gefliſſentliche Auſmerkſamkeit und eine ſehr merk-
liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es ſind
klare und deutliche Vorſtellungen, Vergleichungen, Fol-
gerungen und Raiſonnements erfodert worden, ehe die
Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen,
Fechten und dergleichen erlanget ſind. Aus dieſen letz-
tern kann man die Beyſpiele nehmen, wenn man ſehen
will, was in ſolchen enthalten iſt, die am meiſten will-
kuͤrlich ſind.

10. Die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0370" n="340"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Seelenwe&#x017F;en</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich allein betrachtet, eine <hi rendition="#fr">willku&#x0364;rliche Bewegung</hi><lb/>
&#x017F;ey, die durch eine Aktion der Seele auf den Ko&#x0364;rper,<lb/>
wenn die Vor&#x017F;tellung von der Bewegung gegenwa&#x0364;rtig<lb/>
i&#x017F;t, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber<lb/>
nicht, wenn &#x017F;ie gleich auch &#x017F;on&#x017F;ten unter andern Um&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
den durch eine bloß im Ko&#x0364;rper liegende Ur&#x017F;ache gewir-<lb/>
ket wird. Jn konvul&#x017F;ivi&#x017F;chen Krankheiten erfolgen oft<lb/>
a&#x0364;hnliche Bewegungen des Ko&#x0364;rpers, der Fu&#x0364;ße und der<lb/>
Ha&#x0364;nde, wie die willku&#x0364;rlichen &#x017F;ind; aber dennoch ha&#x0364;ngt<lb/>
das Springen des ge&#x017F;unden Men&#x017F;chen von der Eigen-<lb/>
macht und der Willku&#x0364;r der Seele ab.</p><lb/>
              <p>Einige von &#x017F;olchen willku&#x0364;rlichen Bewegungsreihen<lb/>
haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar &#x017F;im-<lb/>
ple Vor&#x017F;tellungen in der Seele, zu ihrer A&#x017F;&#x017F;ociation erfo-<lb/>
dert. Der Men&#x017F;ch i&#x017F;t hungrig; ihm wird eine Spei&#x017F;e<lb/>
vorge&#x017F;etzt, die ihm &#x017F;chmecket. Von die&#x017F;er Spei&#x017F;e em-<lb/>
pfa&#x0364;ngt er eine Vor&#x017F;tellung, und in einem a&#x0364;hnlichen Falle<lb/>
&#x017F;trecket er die Hand nach ihr zuer&#x017F;t hin. Eine Vor&#x017F;tel-<lb/>
lung, die aus der vorigen Empfindung zuru&#x0364;ckgeblieben<lb/>
war, ohne eine weitere Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit der vor&#x017F;tellen-<lb/>
den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet<lb/>
hin das Gelenk auszumachen, welches die be&#x017F;ondern<lb/>
Theile der ganzen Reihe zu&#x017F;ammenbringet.</p><lb/>
              <p>Es giebt andere, in welchen die er&#x017F;te Anreihung<lb/>
eine gefli&#x017F;&#x017F;entliche Au&#x017F;merk&#x017F;amkeit und eine &#x017F;ehr merk-<lb/>
liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es &#x017F;ind<lb/>
klare und deutliche Vor&#x017F;tellungen, Vergleichungen, Fol-<lb/>
gerungen und Rai&#x017F;onnements erfodert worden, ehe die<lb/>
Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen,<lb/>
Fechten und dergleichen erlanget &#x017F;ind. Aus die&#x017F;en letz-<lb/>
tern kann man die Bey&#x017F;piele nehmen, wenn man &#x017F;ehen<lb/>
will, was in &#x017F;olchen enthalten i&#x017F;t, die am mei&#x017F;ten will-<lb/>
ku&#x0364;rlich &#x017F;ind.</p>
            </div><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">10. Die-</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[340/0370] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen ſich allein betrachtet, eine willkuͤrliche Bewegung ſey, die durch eine Aktion der Seele auf den Koͤrper, wenn die Vorſtellung von der Bewegung gegenwaͤrtig iſt, hervorgebracht werden kann. Es hindert aber nicht, wenn ſie gleich auch ſonſten unter andern Umſtaͤn- den durch eine bloß im Koͤrper liegende Urſache gewir- ket wird. Jn konvulſiviſchen Krankheiten erfolgen oft aͤhnliche Bewegungen des Koͤrpers, der Fuͤße und der Haͤnde, wie die willkuͤrlichen ſind; aber dennoch haͤngt das Springen des geſunden Menſchen von der Eigen- macht und der Willkuͤr der Seele ab. Einige von ſolchen willkuͤrlichen Bewegungsreihen haben vielleicht nichts mehr, als Eine oder ein paar ſim- ple Vorſtellungen in der Seele, zu ihrer Aſſociation erfo- dert. Der Menſch iſt hungrig; ihm wird eine Speiſe vorgeſetzt, die ihm ſchmecket. Von dieſer Speiſe em- pfaͤngt er eine Vorſtellung, und in einem aͤhnlichen Falle ſtrecket er die Hand nach ihr zuerſt hin. Eine Vorſtel- lung, die aus der vorigen Empfindung zuruͤckgeblieben war, ohne eine weitere Selbſtthaͤtigkeit der vorſtellen- den Kraft, ohne Ueberlegen und Nachdenken, reichet hin das Gelenk auszumachen, welches die beſondern Theile der ganzen Reihe zuſammenbringet. Es giebt andere, in welchen die erſte Anreihung eine gefliſſentliche Auſmerkſamkeit und eine ſehr merk- liche Anwendung der Denkkraft erfodert hat. Es ſind klare und deutliche Vorſtellungen, Vergleichungen, Fol- gerungen und Raiſonnements erfodert worden, ehe die Fertigkeiten im Reden, Schreiben, Malen, Tanzen, Fechten und dergleichen erlanget ſind. Aus dieſen letz- tern kann man die Beyſpiele nehmen, wenn man ſehen will, was in ſolchen enthalten iſt, die am meiſten will- kuͤrlich ſind. 10. Die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/370
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/370>, abgerufen am 18.05.2024.