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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
Phantasie geheilet habe? Die Besserung, welche von
der letztern kommt, ist, die meisten Male wenigstens,
mehr im Anfang nur scheinbar, als reell, dauert
selten auf die Länge, und erfodert, daß dieselbige Ueber-
redung in ihrer ersten Stärke erhalten werde. Hat
hingegen die Arzney geholfen, so erfolget die Vorstel-
lung, daß man geheilet sey, von selbst und leicht; aber
es ist ein anderes, wenn das Gefühl der Einbildung fol-
gen soll. Jndessen will ich zum Ueberfluß es noch ein-
mal erinnern, daß, wenn ich diese Ersetzung der organi-
schen Ursachen durch die Phantasie, oder der Nerven-
kräfte durch Seelenkräfte, für unvollständig und mangel-
haft erkläre, ich nur darauf zurücksehe, was überhaupt
und was die meisten Male geschieht, ohne es leugnen
zu wollen, daß in einigen besondern Fällen selbige nicht
vollständig seyn sollte. Denn wenn gleich allemal eini-
ger Unterscheid hiebey stattfinden müßte, wie es die
Erfahrungen im Durchschnitt auch lehren, so folget doch
nicht, daß dieser Unterschied jedesmal sehr merklich sey.
Er kann dem schärfsten Beobachter entwischen. Viel-
leicht fühlet ein Kranker, den Gaßner kurirt hat, sich
eben so gut genesen, als der, dem eine Arzney geholfen
hat; und wenn Mesmer einer Person Erschütterungen
durch den Magnet in der Ferne beybringet, so wird
sie vielleicht eben so reell und stark beweget, als wenn sie
einen elektrischen Stoß empfunden hätte. Nicht das
Raisonnement sondern die Beobachtungen, aber die
richtigen, wobey der prüfende Verstand, nicht die Ein-
bildungskraft, zusiehet und vergleichet, müssen es leh-
ren, wie weit und in welchen Fällen dieß gehe? und es
darf keine Erfahrung darum geläugnet werden, weil
die Macht der Phantasie die Gränzen des Gewöhnli-
chen bey ihr überschritten haben müßte. *) Am öfter-

sten
*) Zehnter Versuch. III. 5.
II Theil. Y

im Menſchen.
Phantaſie geheilet habe? Die Beſſerung, welche von
der letztern kommt, iſt, die meiſten Male wenigſtens,
mehr im Anfang nur ſcheinbar, als reell, dauert
ſelten auf die Laͤnge, und erfodert, daß dieſelbige Ueber-
redung in ihrer erſten Staͤrke erhalten werde. Hat
hingegen die Arzney geholfen, ſo erfolget die Vorſtel-
lung, daß man geheilet ſey, von ſelbſt und leicht; aber
es iſt ein anderes, wenn das Gefuͤhl der Einbildung fol-
gen ſoll. Jndeſſen will ich zum Ueberfluß es noch ein-
mal erinnern, daß, wenn ich dieſe Erſetzung der organi-
ſchen Urſachen durch die Phantaſie, oder der Nerven-
kraͤfte durch Seelenkraͤfte, fuͤr unvollſtaͤndig und mangel-
haft erklaͤre, ich nur darauf zuruͤckſehe, was uͤberhaupt
und was die meiſten Male geſchieht, ohne es leugnen
zu wollen, daß in einigen beſondern Faͤllen ſelbige nicht
vollſtaͤndig ſeyn ſollte. Denn wenn gleich allemal eini-
ger Unterſcheid hiebey ſtattfinden muͤßte, wie es die
Erfahrungen im Durchſchnitt auch lehren, ſo folget doch
nicht, daß dieſer Unterſchied jedesmal ſehr merklich ſey.
Er kann dem ſchaͤrfſten Beobachter entwiſchen. Viel-
leicht fuͤhlet ein Kranker, den Gaßner kurirt hat, ſich
eben ſo gut geneſen, als der, dem eine Arzney geholfen
hat; und wenn Mesmer einer Perſon Erſchuͤtterungen
durch den Magnet in der Ferne beybringet, ſo wird
ſie vielleicht eben ſo reell und ſtark beweget, als wenn ſie
einen elektriſchen Stoß empfunden haͤtte. Nicht das
Raiſonnement ſondern die Beobachtungen, aber die
richtigen, wobey der pruͤfende Verſtand, nicht die Ein-
bildungskraft, zuſiehet und vergleichet, muͤſſen es leh-
ren, wie weit und in welchen Faͤllen dieß gehe? und es
darf keine Erfahrung darum gelaͤugnet werden, weil
die Macht der Phantaſie die Graͤnzen des Gewoͤhnli-
chen bey ihr uͤberſchritten haben muͤßte. *) Am oͤfter-

ſten
*) Zehnter Verſuch. III. 5.
II Theil. Y
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[337/0367] im Menſchen. Phantaſie geheilet habe? Die Beſſerung, welche von der letztern kommt, iſt, die meiſten Male wenigſtens, mehr im Anfang nur ſcheinbar, als reell, dauert ſelten auf die Laͤnge, und erfodert, daß dieſelbige Ueber- redung in ihrer erſten Staͤrke erhalten werde. Hat hingegen die Arzney geholfen, ſo erfolget die Vorſtel- lung, daß man geheilet ſey, von ſelbſt und leicht; aber es iſt ein anderes, wenn das Gefuͤhl der Einbildung fol- gen ſoll. Jndeſſen will ich zum Ueberfluß es noch ein- mal erinnern, daß, wenn ich dieſe Erſetzung der organi- ſchen Urſachen durch die Phantaſie, oder der Nerven- kraͤfte durch Seelenkraͤfte, fuͤr unvollſtaͤndig und mangel- haft erklaͤre, ich nur darauf zuruͤckſehe, was uͤberhaupt und was die meiſten Male geſchieht, ohne es leugnen zu wollen, daß in einigen beſondern Faͤllen ſelbige nicht vollſtaͤndig ſeyn ſollte. Denn wenn gleich allemal eini- ger Unterſcheid hiebey ſtattfinden muͤßte, wie es die Erfahrungen im Durchſchnitt auch lehren, ſo folget doch nicht, daß dieſer Unterſchied jedesmal ſehr merklich ſey. Er kann dem ſchaͤrfſten Beobachter entwiſchen. Viel- leicht fuͤhlet ein Kranker, den Gaßner kurirt hat, ſich eben ſo gut geneſen, als der, dem eine Arzney geholfen hat; und wenn Mesmer einer Perſon Erſchuͤtterungen durch den Magnet in der Ferne beybringet, ſo wird ſie vielleicht eben ſo reell und ſtark beweget, als wenn ſie einen elektriſchen Stoß empfunden haͤtte. Nicht das Raiſonnement ſondern die Beobachtungen, aber die richtigen, wobey der pruͤfende Verſtand, nicht die Ein- bildungskraft, zuſiehet und vergleichet, muͤſſen es leh- ren, wie weit und in welchen Faͤllen dieß gehe? und es darf keine Erfahrung darum gelaͤugnet werden, weil die Macht der Phantaſie die Graͤnzen des Gewoͤhnli- chen bey ihr uͤberſchritten haben muͤßte. *) Am oͤfter- ſten *) Zehnter Verſuch. III. 5. II Theil. Y

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/367>, abgerufen am 19.05.2024.