Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

im Menschen.
sich da aus den Empfindungen her schon festgesetzt hat-
ten? Können sie dieß nicht, warum werden denn so
viele Jdeen durch Zufälle entzogen, oder unerweckbar
gemacht?

Vielleicht hat die körperliche Ursache die Fibern des
Gehirns erschlaffet oder erstarret, daß es ihnen nun an
der nöthigen Festigkeit oder Beugsamkeit fehlet, die in-
nern Eindrücke von der Seele her anzunehmen. Jch
würde dieß antworten. Und dann ist es zugleich be-
greiflich, warum die Seele, ob sie gleich ihre intel-
lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, sich auf nichts be-
sinnen könne. Denn wenn sie diese letztern in sich wie-
der erneuert: so thut sie das, was ein Spieler thut,
wenn er mit seinen Fingern auf die Klaves hin und her
fährt, wie er es sonsten macht, wenn er spielet. Es
erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn-
struments geschlaffet oder zersprungen sind. Auf gleiche
Weise könnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom-
men; aber wenn die dazu gehörige Gehirnsveränderung
nicht vorhanden ist: so ist es auch nicht möglich, daß
die Seele ihre wiedererweckte Vorstellung empfinden,
und von ihr wissen könne, daß sie in ihr sey. Denn
ein Gefühl von einer gegenwärtigen Vorstellung erfo-
dert allemal eine gegenwärtige Gehirnsbewegung, auf
welche die Seele zurückwirket, indem sie die dazu gehö-
rige Vorstellung fühlet.

Genüget diese Antwort? Menschen, deren Ge-
dächtniß in hitzigen Krankheiten vergangen ist, haben
eigentlich am meisten an dem Jdeenvorrath gelitten,
nicht so sehr an dem Gedächtniß selbst, als Vermögen
betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu-
weilen mehr, zuweilen weniger. Sonsten findet sich,
wenn sie wiederum gesund sind, daß ihr Gedächtniß
auch seine Dienste wiederum leistet, Modifikationen
aufbewahrt und reproducirt. Dieß scheinet zu beweisen,

daß
P 4

im Menſchen.
ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat-
ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo
viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar
gemacht?

Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des
Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an
der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in-
nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch
wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be-
greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel-
lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be-
ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie-
der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut,
wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her
faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es
erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn-
ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche
Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom-
men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung
nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß
die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden,
und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn
ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo-
dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf
welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ-
rige Vorſtellung fuͤhlet.

Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge-
daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben
eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten,
nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen
betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu-
weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich,
wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß
auch ſeine Dienſte wiederum leiſtet, Modifikationen
aufbewahrt und reproducirt. Dieß ſcheinet zu beweiſen,

daß
P 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0261" n="231"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">im Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
&#x017F;ich da aus den Empfindungen her &#x017F;chon fe&#x017F;tge&#x017F;etzt hat-<lb/>
ten? Ko&#x0364;nnen &#x017F;ie dieß nicht, warum werden denn &#x017F;o<lb/>
viele Jdeen durch Zufa&#x0364;lle entzogen, oder unerweckbar<lb/>
gemacht?</p><lb/>
            <p>Vielleicht hat die ko&#x0364;rperliche Ur&#x017F;ache die Fibern des<lb/>
Gehirns er&#x017F;chlaffet oder er&#x017F;tarret, daß es ihnen nun an<lb/>
der no&#x0364;thigen Fe&#x017F;tigkeit oder Beug&#x017F;amkeit fehlet, die in-<lb/>
nern Eindru&#x0364;cke von der Seele her anzunehmen. Jch<lb/>
wu&#x0364;rde dieß antworten. Und dann i&#x017F;t es zugleich be-<lb/>
greiflich, warum die Seele, ob &#x017F;ie gleich ihre intel-<lb/>
lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, &#x017F;ich auf nichts be-<lb/>
&#x017F;innen ko&#x0364;nne. Denn wenn &#x017F;ie die&#x017F;e letztern in &#x017F;ich wie-<lb/>
der erneuert: &#x017F;o thut &#x017F;ie das, was ein Spieler thut,<lb/>
wenn er mit &#x017F;einen Fingern auf die Klaves hin und her<lb/>
fa&#x0364;hrt, wie er es &#x017F;on&#x017F;ten macht, wenn er &#x017F;pielet. Es<lb/>
erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn-<lb/>
&#x017F;truments ge&#x017F;chlaffet oder zer&#x017F;prungen &#x017F;ind. Auf gleiche<lb/>
Wei&#x017F;e ko&#x0364;nnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom-<lb/>
men; aber wenn die dazu geho&#x0364;rige Gehirnsvera&#x0364;nderung<lb/>
nicht vorhanden i&#x017F;t: &#x017F;o i&#x017F;t es auch nicht mo&#x0364;glich, daß<lb/>
die Seele ihre wiedererweckte Vor&#x017F;tellung <hi rendition="#fr">empfinden,</hi><lb/>
und von ihr wi&#x017F;&#x017F;en ko&#x0364;nne, daß &#x017F;ie in ihr &#x017F;ey. Denn<lb/>
ein Gefu&#x0364;hl von einer gegenwa&#x0364;rtigen Vor&#x017F;tellung erfo-<lb/>
dert allemal eine gegenwa&#x0364;rtige Gehirnsbewegung, auf<lb/>
welche die Seele zuru&#x0364;ckwirket, indem &#x017F;ie die dazu geho&#x0364;-<lb/>
rige Vor&#x017F;tellung fu&#x0364;hlet.</p><lb/>
            <p>Genu&#x0364;get die&#x017F;e Antwort? Men&#x017F;chen, deren Ge-<lb/>
da&#x0364;chtniß in hitzigen Krankheiten vergangen i&#x017F;t, haben<lb/>
eigentlich am mei&#x017F;ten an dem Jdeenvorrath gelitten,<lb/>
nicht &#x017F;o &#x017F;ehr an dem Geda&#x0364;chtniß &#x017F;elb&#x017F;t, als Vermo&#x0364;gen<lb/>
betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu-<lb/>
weilen mehr, zuweilen weniger. Son&#x017F;ten findet &#x017F;ich,<lb/>
wenn &#x017F;ie wiederum ge&#x017F;und &#x017F;ind, daß ihr Geda&#x0364;chtniß<lb/>
auch &#x017F;eine Dien&#x017F;te wiederum lei&#x017F;tet, Modifikationen<lb/>
aufbewahrt und reproducirt. Dieß &#x017F;cheinet zu bewei&#x017F;en,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P 4</fw><fw place="bottom" type="catch">daß</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0261] im Menſchen. ſich da aus den Empfindungen her ſchon feſtgeſetzt hat- ten? Koͤnnen ſie dieß nicht, warum werden denn ſo viele Jdeen durch Zufaͤlle entzogen, oder unerweckbar gemacht? Vielleicht hat die koͤrperliche Urſache die Fibern des Gehirns erſchlaffet oder erſtarret, daß es ihnen nun an der noͤthigen Feſtigkeit oder Beugſamkeit fehlet, die in- nern Eindruͤcke von der Seele her anzunehmen. Jch wuͤrde dieß antworten. Und dann iſt es zugleich be- greiflich, warum die Seele, ob ſie gleich ihre intel- lektuellen Jdeen wieder hervorziehet, ſich auf nichts be- ſinnen koͤnne. Denn wenn ſie dieſe letztern in ſich wie- der erneuert: ſo thut ſie das, was ein Spieler thut, wenn er mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her faͤhrt, wie er es ſonſten macht, wenn er ſpielet. Es erfolget dennoch kein Ton, wenn die Saiten des Jn- ſtruments geſchlaffet oder zerſprungen ſind. Auf gleiche Weiſe koͤnnte die intellektuelle Jdee wieder hervorkom- men; aber wenn die dazu gehoͤrige Gehirnsveraͤnderung nicht vorhanden iſt: ſo iſt es auch nicht moͤglich, daß die Seele ihre wiedererweckte Vorſtellung empfinden, und von ihr wiſſen koͤnne, daß ſie in ihr ſey. Denn ein Gefuͤhl von einer gegenwaͤrtigen Vorſtellung erfo- dert allemal eine gegenwaͤrtige Gehirnsbewegung, auf welche die Seele zuruͤckwirket, indem ſie die dazu gehoͤ- rige Vorſtellung fuͤhlet. Genuͤget dieſe Antwort? Menſchen, deren Ge- daͤchtniß in hitzigen Krankheiten vergangen iſt, haben eigentlich am meiſten an dem Jdeenvorrath gelitten, nicht ſo ſehr an dem Gedaͤchtniß ſelbſt, als Vermoͤgen betrachtet, obgleich allerdings auch an dem letztern, zu- weilen mehr, zuweilen weniger. Sonſten findet ſich, wenn ſie wiederum geſund ſind, daß ihr Gedaͤchtniß auch ſeine Dienſte wiederum leiſtet, Modifikationen aufbewahrt und reproducirt. Dieß ſcheinet zu beweiſen, daß P 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/261
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/261>, abgerufen am 18.05.2024.