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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
Seele, oder des Organs? Hat das Gedächtniß,
dieses Jdeen aufbewahrende Vermögen, seinen Sitz in
der Seele oder in dem Gehirn?

Man kann vier Antworten darauf geben:

1) Die Spuren sollen allein Seelenbeschaffen-
heiten
seyn. Dieß ist die erste und gemeinste Hy-
pothese von dem Sitz der Vorstellungen in der
Seele.

2) Sie sollen allein Beschaffenheiten des Ge-
hirns
seyn. Dieß ist das Bonnetische System
von dem Sitz des Gedächtnisses im Gehirn.

Oder 3) sie sollen Beschaffenheiten in beiden seyn.
Die Seele soll die Leichtigkeit in sich haben, auf die
vorige Art von neuem modificirt zu werden; und das
Gehirn gleichfalls. Jene in der Seele wird alsdenn
das wesentlichste Stück solcher ruhenden Vorstellung
ausmachen; wenn diese gleich nicht wieder erwecket wer-
den kann, ohne daß die Gehirnsbeschaffenheit zugleich
auch erneuert werde. Dieß ist die dritte Hypothese
von dem Sitz der Vorstellungskraft in beiden
Theilen des Menschen.
Vielleicht ist sie am Ende
die wahrscheinlichste, weil sie in der Mitte lieget.

Oder 4) einige im Gedächtniß ruhende Vorstellungen
können nur allein Seelenbeschaffenheiten seyn, andere
allein Gehirnsbeschaffenheiten. Vielleicht einige auch
Beschaffenheiten von beiden.

Jrgendwo sind diese Vorstellungen vorhanden in
dem innern Menschen; in dem beseelten Organ, oder
in der mit dem Organ vereinigten Seele. Dadurch
werden wir versichert, daß doch auf Einer dieser vor
uns liegenden Höhen die Wahrheit stehen müsse. Zu
welcher führen uns nun die Beobachtungen hin, oder
zu welcher von ihnen bringen sie uns doch so nahe, daß
wir es ganz helle sehen, sie sey es, die wir suchen?
Jch sage, die Beobachtungen: denn sonsten haben

auch

im Menſchen.
Seele, oder des Organs? Hat das Gedaͤchtniß,
dieſes Jdeen aufbewahrende Vermoͤgen, ſeinen Sitz in
der Seele oder in dem Gehirn?

Man kann vier Antworten darauf geben:

1) Die Spuren ſollen allein Seelenbeſchaffen-
heiten
ſeyn. Dieß iſt die erſte und gemeinſte Hy-
potheſe von dem Sitz der Vorſtellungen in der
Seele.

2) Sie ſollen allein Beſchaffenheiten des Ge-
hirns
ſeyn. Dieß iſt das Bonnetiſche Syſtem
von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes im Gehirn.

Oder 3) ſie ſollen Beſchaffenheiten in beiden ſeyn.
Die Seele ſoll die Leichtigkeit in ſich haben, auf die
vorige Art von neuem modificirt zu werden; und das
Gehirn gleichfalls. Jene in der Seele wird alsdenn
das weſentlichſte Stuͤck ſolcher ruhenden Vorſtellung
ausmachen; wenn dieſe gleich nicht wieder erwecket wer-
den kann, ohne daß die Gehirnsbeſchaffenheit zugleich
auch erneuert werde. Dieß iſt die dritte Hypotheſe
von dem Sitz der Vorſtellungskraft in beiden
Theilen des Menſchen.
Vielleicht iſt ſie am Ende
die wahrſcheinlichſte, weil ſie in der Mitte lieget.

Oder 4) einige im Gedaͤchtniß ruhende Vorſtellungen
koͤnnen nur allein Seelenbeſchaffenheiten ſeyn, andere
allein Gehirnsbeſchaffenheiten. Vielleicht einige auch
Beſchaffenheiten von beiden.

Jrgendwo ſind dieſe Vorſtellungen vorhanden in
dem innern Menſchen; in dem beſeelten Organ, oder
in der mit dem Organ vereinigten Seele. Dadurch
werden wir verſichert, daß doch auf Einer dieſer vor
uns liegenden Hoͤhen die Wahrheit ſtehen muͤſſe. Zu
welcher fuͤhren uns nun die Beobachtungen hin, oder
zu welcher von ihnen bringen ſie uns doch ſo nahe, daß
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Jch ſage, die Beobachtungen: denn ſonſten haben

auch
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[221/0251] im Menſchen. Seele, oder des Organs? Hat das Gedaͤchtniß, dieſes Jdeen aufbewahrende Vermoͤgen, ſeinen Sitz in der Seele oder in dem Gehirn? Man kann vier Antworten darauf geben: 1) Die Spuren ſollen allein Seelenbeſchaffen- heiten ſeyn. Dieß iſt die erſte und gemeinſte Hy- potheſe von dem Sitz der Vorſtellungen in der Seele. 2) Sie ſollen allein Beſchaffenheiten des Ge- hirns ſeyn. Dieß iſt das Bonnetiſche Syſtem von dem Sitz des Gedaͤchtniſſes im Gehirn. Oder 3) ſie ſollen Beſchaffenheiten in beiden ſeyn. Die Seele ſoll die Leichtigkeit in ſich haben, auf die vorige Art von neuem modificirt zu werden; und das Gehirn gleichfalls. Jene in der Seele wird alsdenn das weſentlichſte Stuͤck ſolcher ruhenden Vorſtellung ausmachen; wenn dieſe gleich nicht wieder erwecket wer- den kann, ohne daß die Gehirnsbeſchaffenheit zugleich auch erneuert werde. Dieß iſt die dritte Hypotheſe von dem Sitz der Vorſtellungskraft in beiden Theilen des Menſchen. Vielleicht iſt ſie am Ende die wahrſcheinlichſte, weil ſie in der Mitte lieget. Oder 4) einige im Gedaͤchtniß ruhende Vorſtellungen koͤnnen nur allein Seelenbeſchaffenheiten ſeyn, andere allein Gehirnsbeſchaffenheiten. Vielleicht einige auch Beſchaffenheiten von beiden. Jrgendwo ſind dieſe Vorſtellungen vorhanden in dem innern Menſchen; in dem beſeelten Organ, oder in der mit dem Organ vereinigten Seele. Dadurch werden wir verſichert, daß doch auf Einer dieſer vor uns liegenden Hoͤhen die Wahrheit ſtehen muͤſſe. Zu welcher fuͤhren uns nun die Beobachtungen hin, oder zu welcher von ihnen bringen ſie uns doch ſo nahe, daß wir es ganz helle ſehen, ſie ſey es, die wir ſuchen? Jch ſage, die Beobachtungen: denn ſonſten haben auch

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/251>, abgerufen am 17.05.2024.