Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

im Menschen.
bar bewirkte, und die nach der gewöhnlichen Meinung
ihr, wenn sie empfindet, von dem Körper beygebracht
werden. Nun aber konnte sie selbst diese Empfindungen
bearbeiten, und sich selbst zur Aktion bestimmen, und
hatte also ihr eigenes Werk. Und wenn mit dieser
Seelenthätigkeit in dem Gehirn eine harmonische Be-
wegung vergesellschaftet ist, so war die letztere wiederum
eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen
entstehen, dem Mechanismus des Körpers gemäß, die
ihren Grund in dem Körper selbst und in seinen organi-
schen Kräften haben, und wiederum neue Empfin-
dungen in der Seele veranlassen. Die Seele sowohl
als der Körper behielten ihre Spontaneität, deren sie
in dem System der Assistenz gänzlich beraubet wurden.

Jch erwähne dieser Fragen hier nicht, um mich auf
sie weiter einzulassen, da sie so sehr durchgemuthmaßet,
durchvernünftelt und durchgedacht sind, daß man dieß
Feld für ganz ausgebaut ansehen kann, das vielleicht
ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe
sich von einer neuen Kultur desselben etwas erhebliches
erwarten läßt. Das gemeine System, daß die Seele
mit dem Körper in einer wahren physischen Verbindung
sey, ist das natürliche System des Menschenverstandes.
Nach allen Untersuchungen hat sichs gewiesen, daß die
Schwierigkeiten bey demselben, die man als die Grün-
de vorwandte, warum es nöthig sey, sich um eine an-
dre Vorstellungsart zu bekümmern, am Ende sich in
einen Mangel an deutlichen Begriffen über die ursachli-
che Verknüpfung auflösen, und in eine Unbekanntschaft
mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy-
pothese nicht geringer ist. Aber es hat sich kein einziger
Grund gefunden, der uns nöthigte, in das gemeine
Raisonnement des Verstandes ein Mißtrauen zu setzen,
ob es gleich auf nur wahrscheinlichen Grundsätzen beruhet,
die das Gegentheil nicht völlig wie eine Unmöglichkeit

aus-
O 4

im Menſchen.
bar bewirkte, und die nach der gewoͤhnlichen Meinung
ihr, wenn ſie empfindet, von dem Koͤrper beygebracht
werden. Nun aber konnte ſie ſelbſt dieſe Empfindungen
bearbeiten, und ſich ſelbſt zur Aktion beſtimmen, und
hatte alſo ihr eigenes Werk. Und wenn mit dieſer
Seelenthaͤtigkeit in dem Gehirn eine harmoniſche Be-
wegung vergeſellſchaftet iſt, ſo war die letztere wiederum
eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen
entſtehen, dem Mechaniſmus des Koͤrpers gemaͤß, die
ihren Grund in dem Koͤrper ſelbſt und in ſeinen organi-
ſchen Kraͤften haben, und wiederum neue Empfin-
dungen in der Seele veranlaſſen. Die Seele ſowohl
als der Koͤrper behielten ihre Spontaneitaͤt, deren ſie
in dem Syſtem der Aſſiſtenz gaͤnzlich beraubet wurden.

Jch erwaͤhne dieſer Fragen hier nicht, um mich auf
ſie weiter einzulaſſen, da ſie ſo ſehr durchgemuthmaßet,
durchvernuͤnftelt und durchgedacht ſind, daß man dieß
Feld fuͤr ganz ausgebaut anſehen kann, das vielleicht
ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe
ſich von einer neuen Kultur deſſelben etwas erhebliches
erwarten laͤßt. Das gemeine Syſtem, daß die Seele
mit dem Koͤrper in einer wahren phyſiſchen Verbindung
ſey, iſt das natuͤrliche Syſtem des Menſchenverſtandes.
Nach allen Unterſuchungen hat ſichs gewieſen, daß die
Schwierigkeiten bey demſelben, die man als die Gruͤn-
de vorwandte, warum es noͤthig ſey, ſich um eine an-
dre Vorſtellungsart zu bekuͤmmern, am Ende ſich in
einen Mangel an deutlichen Begriffen uͤber die urſachli-
che Verknuͤpfung aufloͤſen, und in eine Unbekanntſchaft
mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy-
potheſe nicht geringer iſt. Aber es hat ſich kein einziger
Grund gefunden, der uns noͤthigte, in das gemeine
Raiſonnement des Verſtandes ein Mißtrauen zu ſetzen,
ob es gleich auf nur wahrſcheinlichen Grundſaͤtzen beruhet,
die das Gegentheil nicht voͤllig wie eine Unmoͤglichkeit

aus-
O 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0245" n="215"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">im Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
bar bewirkte, und die nach der gewo&#x0364;hnlichen Meinung<lb/>
ihr, wenn &#x017F;ie empfindet, von dem Ko&#x0364;rper beygebracht<lb/>
werden. Nun aber konnte &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t die&#x017F;e Empfindungen<lb/>
bearbeiten, und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zur Aktion be&#x017F;timmen, und<lb/>
hatte al&#x017F;o ihr eigenes Werk. Und wenn mit die&#x017F;er<lb/>
Seelentha&#x0364;tigkeit in dem Gehirn eine harmoni&#x017F;che Be-<lb/>
wegung verge&#x017F;ell&#x017F;chaftet i&#x017F;t, &#x017F;o war die letztere wiederum<lb/>
eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen<lb/>
ent&#x017F;tehen, dem Mechani&#x017F;mus des Ko&#x0364;rpers gema&#x0364;ß, die<lb/>
ihren Grund in dem Ko&#x0364;rper &#x017F;elb&#x017F;t und in &#x017F;einen organi-<lb/>
&#x017F;chen Kra&#x0364;ften haben, und wiederum neue Empfin-<lb/>
dungen in der Seele veranla&#x017F;&#x017F;en. Die Seele &#x017F;owohl<lb/>
als der Ko&#x0364;rper behielten ihre Spontaneita&#x0364;t, deren &#x017F;ie<lb/>
in dem Sy&#x017F;tem der A&#x017F;&#x017F;i&#x017F;tenz ga&#x0364;nzlich beraubet wurden.</p><lb/>
            <p>Jch erwa&#x0364;hne die&#x017F;er Fragen hier nicht, um mich auf<lb/>
&#x017F;ie weiter einzula&#x017F;&#x017F;en, da &#x017F;ie &#x017F;o &#x017F;ehr durchgemuthmaßet,<lb/>
durchvernu&#x0364;nftelt und durchgedacht &#x017F;ind, daß man dieß<lb/>
Feld fu&#x0364;r ganz ausgebaut an&#x017F;ehen kann, das vielleicht<lb/>
ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe<lb/>
&#x017F;ich von einer neuen Kultur de&#x017F;&#x017F;elben etwas erhebliches<lb/>
erwarten la&#x0364;ßt. Das gemeine Sy&#x017F;tem, daß die Seele<lb/>
mit dem Ko&#x0364;rper in einer wahren phy&#x017F;i&#x017F;chen Verbindung<lb/>
&#x017F;ey, i&#x017F;t das natu&#x0364;rliche Sy&#x017F;tem des Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes.<lb/>
Nach allen Unter&#x017F;uchungen hat &#x017F;ichs gewie&#x017F;en, daß die<lb/>
Schwierigkeiten bey dem&#x017F;elben, die man als die Gru&#x0364;n-<lb/>
de vorwandte, warum es no&#x0364;thig &#x017F;ey, &#x017F;ich um eine an-<lb/>
dre Vor&#x017F;tellungsart zu beku&#x0364;mmern, am Ende &#x017F;ich in<lb/>
einen Mangel an deutlichen Begriffen u&#x0364;ber die ur&#x017F;achli-<lb/>
che Verknu&#x0364;pfung auflo&#x0364;&#x017F;en, und in eine Unbekannt&#x017F;chaft<lb/>
mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy-<lb/>
pothe&#x017F;e nicht geringer i&#x017F;t. Aber es hat &#x017F;ich kein einziger<lb/>
Grund gefunden, der uns no&#x0364;thigte, in das gemeine<lb/>
Rai&#x017F;onnement des Ver&#x017F;tandes ein Mißtrauen zu &#x017F;etzen,<lb/>
ob es gleich auf nur wahr&#x017F;cheinlichen Grund&#x017F;a&#x0364;tzen beruhet,<lb/>
die das Gegentheil nicht vo&#x0364;llig wie eine Unmo&#x0364;glichkeit<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 4</fw><fw place="bottom" type="catch">aus-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[215/0245] im Menſchen. bar bewirkte, und die nach der gewoͤhnlichen Meinung ihr, wenn ſie empfindet, von dem Koͤrper beygebracht werden. Nun aber konnte ſie ſelbſt dieſe Empfindungen bearbeiten, und ſich ſelbſt zur Aktion beſtimmen, und hatte alſo ihr eigenes Werk. Und wenn mit dieſer Seelenthaͤtigkeit in dem Gehirn eine harmoniſche Be- wegung vergeſellſchaftet iſt, ſo war die letztere wiederum eine Wirkung von Gott, von welcher neue Bewegungen entſtehen, dem Mechaniſmus des Koͤrpers gemaͤß, die ihren Grund in dem Koͤrper ſelbſt und in ſeinen organi- ſchen Kraͤften haben, und wiederum neue Empfin- dungen in der Seele veranlaſſen. Die Seele ſowohl als der Koͤrper behielten ihre Spontaneitaͤt, deren ſie in dem Syſtem der Aſſiſtenz gaͤnzlich beraubet wurden. Jch erwaͤhne dieſer Fragen hier nicht, um mich auf ſie weiter einzulaſſen, da ſie ſo ſehr durchgemuthmaßet, durchvernuͤnftelt und durchgedacht ſind, daß man dieß Feld fuͤr ganz ausgebaut anſehen kann, das vielleicht ein halbes Jahrhundert wieder brach liegen muß, ehe ſich von einer neuen Kultur deſſelben etwas erhebliches erwarten laͤßt. Das gemeine Syſtem, daß die Seele mit dem Koͤrper in einer wahren phyſiſchen Verbindung ſey, iſt das natuͤrliche Syſtem des Menſchenverſtandes. Nach allen Unterſuchungen hat ſichs gewieſen, daß die Schwierigkeiten bey demſelben, die man als die Gruͤn- de vorwandte, warum es noͤthig ſey, ſich um eine an- dre Vorſtellungsart zu bekuͤmmern, am Ende ſich in einen Mangel an deutlichen Begriffen uͤber die urſachli- che Verknuͤpfung aufloͤſen, und in eine Unbekanntſchaft mit dem Jnnern der Natur, welche in jeder andern Hy- potheſe nicht geringer iſt. Aber es hat ſich kein einziger Grund gefunden, der uns noͤthigte, in das gemeine Raiſonnement des Verſtandes ein Mißtrauen zu ſetzen, ob es gleich auf nur wahrſcheinlichen Grundſaͤtzen beruhet, die das Gegentheil nicht voͤllig wie eine Unmoͤglichkeit aus- O 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/245
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/245>, abgerufen am 06.05.2024.