Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

im Menschen.
gesetzt, die einzeln genommen keine Gefühle sind: so
wird aus diesen letztern nur alsdann erst ein Gefühls-
aktus, wann sie vereiniget und zusammen, das ist,
kollektive genommen werden. Aber es ist unmöglich,
daß sie kolligirt werden können, wofern solches nicht in
Einem Dinge geschieht, welches eine wahre substan-
zielle Einheit
ist. Denn wenn die verschiedenen Be-
standtheile des Aktus durch mehrere verschiedene Wesen
vertheilet sind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen
von jenen Aktus hervorbringet: so ist zwar ein Haufen
von Elementen des Gefühls in mehrern Dingen
vertheilt vorhanden; aber nirgends ist ein Gefühl, nir-
gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der
Voraussetzung, heterogen von seinen Elementen, erst ein
Gefühl wird, wenn jene Elemente zusammen genom-
men werden; nirgends ist einmal ein Schein des gan-
zen Gefühls. Wie kann man sagen, daß es ein füh-
lendes Wesen im Menschen gebe, ohne sich vorzustellen,
daß jene heterogene Bestandtheile des Gefühls in irgend
einem Dinge zusammen kommen, und hier zu einer
Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff
von Aktionen zu einem Gefühl gemacht wird? Was
bloß kollektive ein Gefühl ist, muß kolligiret wer-
den, ehe es ein solches wird. Es kann als ein unläug-
barer Erfahrungssatz angesehen werden, daß unser Jch
sich selbst als ein fühlendes und denkendes Wesen er-
scheine. Aber sowohl die Existenz des Gefühls, das nur
durch die Kollektion ein Gefühl ist, wie hier angenom-
men wird, als auch nur der Schein desselben, worinn
dieser letztere auch bestehen mag, fällt weg, wenn nichts
weiter, als eine Menge von Wesen da ist, deren jed-
wedes allein für sich ganz etwas anders als ein Fühlen
hervorbringet.

Es ist längst angezeiget worden, wie wenig anpas-
send das Gleichniß der Materialisten sey, wenn sie die

Entste-
N 3

im Menſchen.
geſetzt, die einzeln genommen keine Gefuͤhle ſind: ſo
wird aus dieſen letztern nur alsdann erſt ein Gefuͤhls-
aktus, wann ſie vereiniget und zuſammen, das iſt,
kollektive genommen werden. Aber es iſt unmoͤglich,
daß ſie kolligirt werden koͤnnen, wofern ſolches nicht in
Einem Dinge geſchieht, welches eine wahre ſubſtan-
zielle Einheit
iſt. Denn wenn die verſchiedenen Be-
ſtandtheile des Aktus durch mehrere verſchiedene Weſen
vertheilet ſind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen
von jenen Aktus hervorbringet: ſo iſt zwar ein Haufen
von Elementen des Gefuͤhls in mehrern Dingen
vertheilt vorhanden; aber nirgends iſt ein Gefuͤhl, nir-
gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der
Vorausſetzung, heterogen von ſeinen Elementen, erſt ein
Gefuͤhl wird, wenn jene Elemente zuſammen genom-
men werden; nirgends iſt einmal ein Schein des gan-
zen Gefuͤhls. Wie kann man ſagen, daß es ein fuͤh-
lendes Weſen im Menſchen gebe, ohne ſich vorzuſtellen,
daß jene heterogene Beſtandtheile des Gefuͤhls in irgend
einem Dinge zuſammen kommen, und hier zu einer
Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff
von Aktionen zu einem Gefuͤhl gemacht wird? Was
bloß kollektive ein Gefuͤhl iſt, muß kolligiret wer-
den, ehe es ein ſolches wird. Es kann als ein unlaͤug-
barer Erfahrungsſatz angeſehen werden, daß unſer Jch
ſich ſelbſt als ein fuͤhlendes und denkendes Weſen er-
ſcheine. Aber ſowohl die Exiſtenz des Gefuͤhls, das nur
durch die Kollektion ein Gefuͤhl iſt, wie hier angenom-
men wird, als auch nur der Schein deſſelben, worinn
dieſer letztere auch beſtehen mag, faͤllt weg, wenn nichts
weiter, als eine Menge von Weſen da iſt, deren jed-
wedes allein fuͤr ſich ganz etwas anders als ein Fuͤhlen
hervorbringet.

Es iſt laͤngſt angezeiget worden, wie wenig anpaſ-
ſend das Gleichniß der Materialiſten ſey, wenn ſie die

Entſte-
N 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0227" n="197"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">im Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
ge&#x017F;etzt, die einzeln genommen keine Gefu&#x0364;hle &#x017F;ind: &#x017F;o<lb/>
wird aus die&#x017F;en letztern nur alsdann er&#x017F;t ein Gefu&#x0364;hls-<lb/>
aktus, wann &#x017F;ie vereiniget und zu&#x017F;ammen, das i&#x017F;t,<lb/><hi rendition="#fr">kollektive</hi> genommen werden. Aber es i&#x017F;t unmo&#x0364;glich,<lb/>
daß &#x017F;ie kolligirt werden ko&#x0364;nnen, wofern &#x017F;olches nicht in<lb/><hi rendition="#fr">Einem</hi> Dinge ge&#x017F;chieht, welches eine wahre <hi rendition="#fr">&#x017F;ub&#x017F;tan-<lb/>
zielle Einheit</hi> i&#x017F;t. Denn wenn die ver&#x017F;chiedenen Be-<lb/>
&#x017F;tandtheile des Aktus durch mehrere ver&#x017F;chiedene We&#x017F;en<lb/>
vertheilet &#x017F;ind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen<lb/>
von jenen Aktus hervorbringet: &#x017F;o i&#x017F;t zwar ein Haufen<lb/>
von <hi rendition="#fr">Elementen des Gefu&#x0364;hls</hi> in mehrern Dingen<lb/>
vertheilt vorhanden; aber nirgends i&#x017F;t ein <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl,</hi> nir-<lb/>
gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der<lb/>
Voraus&#x017F;etzung, heterogen von &#x017F;einen Elementen, er&#x017F;t ein<lb/>
Gefu&#x0364;hl wird, wenn jene Elemente zu&#x017F;ammen genom-<lb/>
men werden; nirgends i&#x017F;t einmal ein <hi rendition="#fr">Schein</hi> des gan-<lb/>
zen Gefu&#x0364;hls. Wie kann man &#x017F;agen, daß es ein fu&#x0364;h-<lb/>
lendes We&#x017F;en im Men&#x017F;chen gebe, ohne &#x017F;ich vorzu&#x017F;tellen,<lb/>
daß jene heterogene Be&#x017F;tandtheile des Gefu&#x0364;hls in irgend<lb/>
einem Dinge zu&#x017F;ammen kommen, und hier zu einer<lb/>
Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff<lb/>
von Aktionen zu einem Gefu&#x0364;hl gemacht wird? Was<lb/><hi rendition="#fr">bloß kollektive</hi> ein Gefu&#x0364;hl i&#x017F;t, muß <hi rendition="#fr">kolligiret</hi> wer-<lb/>
den, ehe es ein &#x017F;olches wird. Es kann als ein unla&#x0364;ug-<lb/>
barer Erfahrungs&#x017F;atz ange&#x017F;ehen werden, daß un&#x017F;er Jch<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t als ein fu&#x0364;hlendes und denkendes We&#x017F;en er-<lb/>
&#x017F;cheine. Aber &#x017F;owohl die Exi&#x017F;tenz des Gefu&#x0364;hls, das nur<lb/>
durch die Kollektion ein Gefu&#x0364;hl i&#x017F;t, wie hier angenom-<lb/>
men wird, als auch nur der Schein de&#x017F;&#x017F;elben, worinn<lb/>
die&#x017F;er letztere auch be&#x017F;tehen mag, fa&#x0364;llt weg, wenn nichts<lb/>
weiter, als eine Menge von We&#x017F;en da i&#x017F;t, deren jed-<lb/>
wedes allein fu&#x0364;r &#x017F;ich ganz etwas anders als ein Fu&#x0364;hlen<lb/>
hervorbringet.</p><lb/>
            <p>Es i&#x017F;t la&#x0364;ng&#x017F;t angezeiget worden, wie wenig anpa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;end das Gleichniß der Materiali&#x017F;ten &#x017F;ey, wenn &#x017F;ie die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">N 3</fw><fw place="bottom" type="catch">Ent&#x017F;te-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[197/0227] im Menſchen. geſetzt, die einzeln genommen keine Gefuͤhle ſind: ſo wird aus dieſen letztern nur alsdann erſt ein Gefuͤhls- aktus, wann ſie vereiniget und zuſammen, das iſt, kollektive genommen werden. Aber es iſt unmoͤglich, daß ſie kolligirt werden koͤnnen, wofern ſolches nicht in Einem Dinge geſchieht, welches eine wahre ſubſtan- zielle Einheit iſt. Denn wenn die verſchiedenen Be- ſtandtheile des Aktus durch mehrere verſchiedene Weſen vertheilet ſind, davon jedes einzeln, nur einen einzelnen von jenen Aktus hervorbringet: ſo iſt zwar ein Haufen von Elementen des Gefuͤhls in mehrern Dingen vertheilt vorhanden; aber nirgends iſt ein Gefuͤhl, nir- gends das vereinigte Ganze aus ihnen, das nach der Vorausſetzung, heterogen von ſeinen Elementen, erſt ein Gefuͤhl wird, wenn jene Elemente zuſammen genom- men werden; nirgends iſt einmal ein Schein des gan- zen Gefuͤhls. Wie kann man ſagen, daß es ein fuͤh- lendes Weſen im Menſchen gebe, ohne ſich vorzuſtellen, daß jene heterogene Beſtandtheile des Gefuͤhls in irgend einem Dinge zuſammen kommen, und hier zu einer Kollektion in Einem werden, wodurch jener Jnbegriff von Aktionen zu einem Gefuͤhl gemacht wird? Was bloß kollektive ein Gefuͤhl iſt, muß kolligiret wer- den, ehe es ein ſolches wird. Es kann als ein unlaͤug- barer Erfahrungsſatz angeſehen werden, daß unſer Jch ſich ſelbſt als ein fuͤhlendes und denkendes Weſen er- ſcheine. Aber ſowohl die Exiſtenz des Gefuͤhls, das nur durch die Kollektion ein Gefuͤhl iſt, wie hier angenom- men wird, als auch nur der Schein deſſelben, worinn dieſer letztere auch beſtehen mag, faͤllt weg, wenn nichts weiter, als eine Menge von Weſen da iſt, deren jed- wedes allein fuͤr ſich ganz etwas anders als ein Fuͤhlen hervorbringet. Es iſt laͤngſt angezeiget worden, wie wenig anpaſ- ſend das Gleichniß der Materialiſten ſey, wenn ſie die Entſte- N 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/227
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/227>, abgerufen am 27.11.2024.