nicht der Entschluß, oder das Wollen. Dieß letz- tere ist eine neue Thätigkeit, die zu derjenigen, welche durch das Gefühl des Angenehmen unmittelbar hervor- gebracht worden ist, und zu der wir leidend bestimmet waren, hinzu kommt und auf sie folget. Wir erken- nen dieß am deutlichsten, wenn eine merkliche Ueberle- gung vorhergehet. Wie oft wälzen wir dann die Jdeen und Vorstellungen um; und wenn nun auch das Gefal- len da ist, außer dem wir nichts mehr gebrauchen, so kann uns doch noch eine gewisse Bedachtsamkeit, die zu- weilen Aengstlichkeit wird, zurückhalten. Wenn wir aber nichts mehr antreffen, das uns abhält, so bestim- men wir uns nach unserm Gefallen zu einer Vorstellung, die schon vorher eben so vorhanden war, wie sie es je- tzo ist.
Jm Affekt, z. B. bey einem starken Hunger tritt uns der Speichel in den Mund, wenn wir die wolschme- ckende Speise auf dem Tisch vor uns sehen. Dieß ist eine unwillkürliche instinktartige Wirkung; und die sie begleitende Begierde in der Seele zum Essen, welche zugleich mit jener Bewegung im Körper entspringet, ist es nicht weniger. Aber in einem solchen Fall ist das Begehren keine Selbstbestimmung, und kein eigentli- ches Wollen.
Hiemit vergleiche man einen andern Fall, wo wir nach unserm sinnlichen Urtheil sagen, daß die Bewe- gungsgründe uns nur geneigt machen, uns nur rei- zen, locken, aber doch zum Entschluß nicht zwingen, nicht bestimmen und ziehen. Diese Verschiedenheit hat man gefühlet. Worinn bestehet sie? Jch meine hie- rinn, daß in dem letzten Fall die Selbstbestimmung ei- ne neue Aktion sey, welche noch zu der ersten Kraft- äußerung, oder zu der ersten Spannung der Kraft, die eine unmittelbare Folge von dem Gefallen war, hinzu- kommt.
Wir
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
nicht der Entſchluß, oder das Wollen. Dieß letz- tere iſt eine neue Thaͤtigkeit, die zu derjenigen, welche durch das Gefuͤhl des Angenehmen unmittelbar hervor- gebracht worden iſt, und zu der wir leidend beſtimmet waren, hinzu kommt und auf ſie folget. Wir erken- nen dieß am deutlichſten, wenn eine merkliche Ueberle- gung vorhergehet. Wie oft waͤlzen wir dann die Jdeen und Vorſtellungen um; und wenn nun auch das Gefal- len da iſt, außer dem wir nichts mehr gebrauchen, ſo kann uns doch noch eine gewiſſe Bedachtſamkeit, die zu- weilen Aengſtlichkeit wird, zuruͤckhalten. Wenn wir aber nichts mehr antreffen, das uns abhaͤlt, ſo beſtim- men wir uns nach unſerm Gefallen zu einer Vorſtellung, die ſchon vorher eben ſo vorhanden war, wie ſie es je- tzo iſt.
Jm Affekt, z. B. bey einem ſtarken Hunger tritt uns der Speichel in den Mund, wenn wir die wolſchme- ckende Speiſe auf dem Tiſch vor uns ſehen. Dieß iſt eine unwillkuͤrliche inſtinktartige Wirkung; und die ſie begleitende Begierde in der Seele zum Eſſen, welche zugleich mit jener Bewegung im Koͤrper entſpringet, iſt es nicht weniger. Aber in einem ſolchen Fall iſt das Begehren keine Selbſtbeſtimmung, und kein eigentli- ches Wollen.
Hiemit vergleiche man einen andern Fall, wo wir nach unſerm ſinnlichen Urtheil ſagen, daß die Bewe- gungsgruͤnde uns nur geneigt machen, uns nur rei- zen, locken, aber doch zum Entſchluß nicht zwingen, nicht beſtimmen und ziehen. Dieſe Verſchiedenheit hat man gefuͤhlet. Worinn beſtehet ſie? Jch meine hie- rinn, daß in dem letzten Fall die Selbſtbeſtimmung ei- ne neue Aktion ſey, welche noch zu der erſten Kraft- aͤußerung, oder zu der erſten Spannung der Kraft, die eine unmittelbare Folge von dem Gefallen war, hinzu- kommt.
Wir
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
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durch das Gefuͤhl des Angenehmen unmittelbar hervor-
gebracht worden iſt, und zu der wir leidend beſtimmet
waren, hinzu kommt und auf ſie folget. Wir erken-
nen dieß am deutlichſten, wenn eine merkliche Ueberle-
gung vorhergehet. Wie oft waͤlzen wir dann die Jdeen
und Vorſtellungen um; und wenn nun auch das Gefal-
len da iſt, außer dem wir nichts mehr gebrauchen, ſo
kann uns doch noch eine gewiſſe Bedachtſamkeit, die zu-
weilen Aengſtlichkeit wird, zuruͤckhalten. Wenn wir
aber nichts mehr antreffen, das uns abhaͤlt, ſo beſtim-
men wir uns nach unſerm Gefallen zu einer Vorſtellung,
die ſchon vorher eben ſo vorhanden war, wie ſie es je-
tzo iſt.
Jm Affekt, z. B. bey einem ſtarken Hunger tritt
uns der Speichel in den Mund, wenn wir die wolſchme-
ckende Speiſe auf dem Tiſch vor uns ſehen. Dieß iſt
eine unwillkuͤrliche inſtinktartige Wirkung; und die
ſie begleitende Begierde in der Seele zum Eſſen, welche
zugleich mit jener Bewegung im Koͤrper entſpringet, iſt
es nicht weniger. Aber in einem ſolchen Fall iſt das
Begehren keine Selbſtbeſtimmung, und kein eigentli-
ches Wollen.
Hiemit vergleiche man einen andern Fall, wo wir
nach unſerm ſinnlichen Urtheil ſagen, daß die Bewe-
gungsgruͤnde uns nur geneigt machen, uns nur rei-
zen, locken, aber doch zum Entſchluß nicht zwingen,
nicht beſtimmen und ziehen. Dieſe Verſchiedenheit hat
man gefuͤhlet. Worinn beſtehet ſie? Jch meine hie-
rinn, daß in dem letzten Fall die Selbſtbeſtimmung ei-
ne neue Aktion ſey, welche noch zu der erſten Kraft-
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eine unmittelbare Folge von dem Gefallen war, hinzu-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/120>, abgerufen am 28.01.2025.
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