Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der menschlichen Seele etc.
embryonischen Zustande an verbunden, daß wir diese
vorzüglich perfektible Selbstthätigkeit noch immer
als ein Grundmerkmal gebrauchen können, wenn wir in
der Vergleichung der Menschenseelen und der Thiersee-
len nicht weiter als auf jenen ersten embryonischen Stand,
wo die Ausbildung zum völligen Thiere schon angefan-
gen hat, hinausgehen wollen. Und dieß wäre schon weit
genug gegangen.

Wenn die vorzügliche Selbstmacht als ein Unter-
scheidungsmerkmal der Urkraft der Seele angesehen wird,
so wird ein Schluß gemacht von der Anlage, vorzüglich
selbstthätig zu werden, auf ein wirklich vorhandenes vor-
zügliches Vermögen, auf eine schon in ihr existirende
Selbstkraft. Jst diese Folgerung nicht etwas bedenk-
lich? Können die wirklichen reellen Vermögen in einem
Wesen nicht dermalen geringer und schwächer seyn, als
in einem andern, wenn jenes gleich aufgelegt ist, meh-
rere als dieß letztere anzunehmen, und in der Folge sich
über dieses zu erheben? Jst die treibende Kraft in dem
Saamen der Eiche darum innerlich größer, stärker,
mächtiger, als in dem Saamen der schneller nach allen
Dimensionen sich entwickelnden Kohlstaude, weil jene
noch immerfort mehr Vermögen annehmen, sich immer
mehr entwickeln und wachsen, und die letztere so weit
hinter sich zurücklassen kann?

Wir verlieren uns in die Dunkelheit der Begriffe
von Kräften, Vermögen, Anlagen, Graden
und Entwickelungen, wenn wir weiter hierinn hin-
eingehen, und sammlen höchstens noch Ein Beyspiel
mehr zu so vielen andern, wie unentbehrlich zu jeder
gründlichen Untersuchung über die Natur der wirklichen
Dinge die Auflösung der allgemeinen Verstandesbegriffe,
das ist, eine vernünstige Metaphysik sey. Es ist meiner
jetzigen Absicht gemäßer, bey der Perfektibilität an
Selbstmacht stehen zu bleiben, als noch weiter den Grund

dieser
B b b 4

der menſchlichen Seele ⁊c.
embryoniſchen Zuſtande an verbunden, daß wir dieſe
vorzuͤglich perfektible Selbſtthaͤtigkeit noch immer
als ein Grundmerkmal gebrauchen koͤnnen, wenn wir in
der Vergleichung der Menſchenſeelen und der Thierſee-
len nicht weiter als auf jenen erſten embryoniſchen Stand,
wo die Ausbildung zum voͤlligen Thiere ſchon angefan-
gen hat, hinausgehen wollen. Und dieß waͤre ſchon weit
genug gegangen.

Wenn die vorzuͤgliche Selbſtmacht als ein Unter-
ſcheidungsmerkmal der Urkraft der Seele angeſehen wird,
ſo wird ein Schluß gemacht von der Anlage, vorzuͤglich
ſelbſtthaͤtig zu werden, auf ein wirklich vorhandenes vor-
zuͤgliches Vermoͤgen, auf eine ſchon in ihr exiſtirende
Selbſtkraft. Jſt dieſe Folgerung nicht etwas bedenk-
lich? Koͤnnen die wirklichen reellen Vermoͤgen in einem
Weſen nicht dermalen geringer und ſchwaͤcher ſeyn, als
in einem andern, wenn jenes gleich aufgelegt iſt, meh-
rere als dieß letztere anzunehmen, und in der Folge ſich
uͤber dieſes zu erheben? Jſt die treibende Kraft in dem
Saamen der Eiche darum innerlich groͤßer, ſtaͤrker,
maͤchtiger, als in dem Saamen der ſchneller nach allen
Dimenſionen ſich entwickelnden Kohlſtaude, weil jene
noch immerfort mehr Vermoͤgen annehmen, ſich immer
mehr entwickeln und wachſen, und die letztere ſo weit
hinter ſich zuruͤcklaſſen kann?

Wir verlieren uns in die Dunkelheit der Begriffe
von Kraͤften, Vermoͤgen, Anlagen, Graden
und Entwickelungen, wenn wir weiter hierinn hin-
eingehen, und ſammlen hoͤchſtens noch Ein Beyſpiel
mehr zu ſo vielen andern, wie unentbehrlich zu jeder
gruͤndlichen Unterſuchung uͤber die Natur der wirklichen
Dinge die Aufloͤſung der allgemeinen Verſtandesbegriffe,
das iſt, eine vernuͤnſtige Metaphyſik ſey. Es iſt meiner
jetzigen Abſicht gemaͤßer, bey der Perfektibilitaͤt an
Selbſtmacht ſtehen zu bleiben, als noch weiter den Grund

dieſer
B b b 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0819" n="759"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der men&#x017F;chlichen Seele &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
embryoni&#x017F;chen Zu&#x017F;tande an verbunden, daß wir die&#x017F;e<lb/>
vorzu&#x0364;glich <hi rendition="#fr">perfektible Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi> noch immer<lb/>
als ein Grundmerkmal gebrauchen ko&#x0364;nnen, wenn wir in<lb/>
der Vergleichung der Men&#x017F;chen&#x017F;eelen und der Thier&#x017F;ee-<lb/>
len nicht weiter als auf jenen er&#x017F;ten embryoni&#x017F;chen Stand,<lb/>
wo die Ausbildung zum vo&#x0364;lligen Thiere &#x017F;chon angefan-<lb/>
gen hat, hinausgehen wollen. Und dieß wa&#x0364;re &#x017F;chon weit<lb/>
genug gegangen.</p><lb/>
            <p>Wenn die vorzu&#x0364;gliche Selb&#x017F;tmacht als ein Unter-<lb/>
&#x017F;cheidungsmerkmal der Urkraft der Seele ange&#x017F;ehen wird,<lb/>
&#x017F;o wird ein Schluß gemacht von der Anlage, vorzu&#x0364;glich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tig zu werden, auf ein wirklich vorhandenes vor-<lb/>
zu&#x0364;gliches Vermo&#x0364;gen, auf eine &#x017F;chon in ihr exi&#x017F;tirende<lb/>
Selb&#x017F;tkraft. J&#x017F;t die&#x017F;e Folgerung nicht etwas bedenk-<lb/>
lich? Ko&#x0364;nnen die wirklichen reellen Vermo&#x0364;gen in einem<lb/>
We&#x017F;en nicht dermalen geringer und &#x017F;chwa&#x0364;cher &#x017F;eyn, als<lb/>
in einem andern, wenn jenes gleich aufgelegt i&#x017F;t, meh-<lb/>
rere als dieß letztere anzunehmen, und in der Folge &#x017F;ich<lb/>
u&#x0364;ber die&#x017F;es zu erheben? J&#x017F;t die treibende Kraft in dem<lb/>
Saamen der Eiche darum innerlich gro&#x0364;ßer, &#x017F;ta&#x0364;rker,<lb/>
ma&#x0364;chtiger, als in dem Saamen der &#x017F;chneller nach allen<lb/>
Dimen&#x017F;ionen &#x017F;ich entwickelnden Kohl&#x017F;taude, weil jene<lb/>
noch immerfort mehr Vermo&#x0364;gen annehmen, &#x017F;ich immer<lb/>
mehr entwickeln und wach&#x017F;en, und die letztere &#x017F;o weit<lb/>
hinter &#x017F;ich zuru&#x0364;ckla&#x017F;&#x017F;en kann?</p><lb/>
            <p>Wir verlieren uns in die Dunkelheit der Begriffe<lb/>
von <hi rendition="#fr">Kra&#x0364;ften, Vermo&#x0364;gen, Anlagen, Graden</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">Entwickelungen,</hi> wenn wir weiter hierinn hin-<lb/>
eingehen, und &#x017F;ammlen ho&#x0364;ch&#x017F;tens noch Ein Bey&#x017F;piel<lb/>
mehr zu &#x017F;o vielen andern, wie unentbehrlich zu jeder<lb/>
gru&#x0364;ndlichen Unter&#x017F;uchung u&#x0364;ber die Natur der wirklichen<lb/>
Dinge die Auflo&#x0364;&#x017F;ung der allgemeinen Ver&#x017F;tandesbegriffe,<lb/>
das i&#x017F;t, eine vernu&#x0364;n&#x017F;tige Metaphy&#x017F;ik &#x017F;ey. Es i&#x017F;t meiner<lb/>
jetzigen Ab&#x017F;icht gema&#x0364;ßer, bey der Perfektibilita&#x0364;t an<lb/>
Selb&#x017F;tmacht &#x017F;tehen zu bleiben, als noch weiter den Grund<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">B b b 4</fw><fw place="bottom" type="catch">die&#x017F;er</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[759/0819] der menſchlichen Seele ⁊c. embryoniſchen Zuſtande an verbunden, daß wir dieſe vorzuͤglich perfektible Selbſtthaͤtigkeit noch immer als ein Grundmerkmal gebrauchen koͤnnen, wenn wir in der Vergleichung der Menſchenſeelen und der Thierſee- len nicht weiter als auf jenen erſten embryoniſchen Stand, wo die Ausbildung zum voͤlligen Thiere ſchon angefan- gen hat, hinausgehen wollen. Und dieß waͤre ſchon weit genug gegangen. Wenn die vorzuͤgliche Selbſtmacht als ein Unter- ſcheidungsmerkmal der Urkraft der Seele angeſehen wird, ſo wird ein Schluß gemacht von der Anlage, vorzuͤglich ſelbſtthaͤtig zu werden, auf ein wirklich vorhandenes vor- zuͤgliches Vermoͤgen, auf eine ſchon in ihr exiſtirende Selbſtkraft. Jſt dieſe Folgerung nicht etwas bedenk- lich? Koͤnnen die wirklichen reellen Vermoͤgen in einem Weſen nicht dermalen geringer und ſchwaͤcher ſeyn, als in einem andern, wenn jenes gleich aufgelegt iſt, meh- rere als dieß letztere anzunehmen, und in der Folge ſich uͤber dieſes zu erheben? Jſt die treibende Kraft in dem Saamen der Eiche darum innerlich groͤßer, ſtaͤrker, maͤchtiger, als in dem Saamen der ſchneller nach allen Dimenſionen ſich entwickelnden Kohlſtaude, weil jene noch immerfort mehr Vermoͤgen annehmen, ſich immer mehr entwickeln und wachſen, und die letztere ſo weit hinter ſich zuruͤcklaſſen kann? Wir verlieren uns in die Dunkelheit der Begriffe von Kraͤften, Vermoͤgen, Anlagen, Graden und Entwickelungen, wenn wir weiter hierinn hin- eingehen, und ſammlen hoͤchſtens noch Ein Beyſpiel mehr zu ſo vielen andern, wie unentbehrlich zu jeder gruͤndlichen Unterſuchung uͤber die Natur der wirklichen Dinge die Aufloͤſung der allgemeinen Verſtandesbegriffe, das iſt, eine vernuͤnſtige Metaphyſik ſey. Es iſt meiner jetzigen Abſicht gemaͤßer, bey der Perfektibilitaͤt an Selbſtmacht ſtehen zu bleiben, als noch weiter den Grund dieſer B b b 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/819
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 759. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/819>, abgerufen am 24.11.2024.