kräften. Allein von welchen? Das Gefühl wird ent- wickelt, wird größer und feiner gemacht. Daraus wird keine vorstellende und denkende Kraft. Zu dieser letztern ist eine Entwickelung von einer besondern Seite erfoder- lich, denn das fühlende Wesen muß vornehmlich an Selbstthätigkeit zunehmen, wenn es zum Denken sich erheben soll. Will Rousseau außer der Perfektibilität auch die Denkkraft zu dem völligen Keim der Menschheit gerechnet wissen, und jene als eine allgemeine Eigen- schaft aller Grundvermögen ansehen, so gehöret sie unter seine simpeln Unterscheidungsmerkmale. Dann lieget der Grundcharakter schon in der Denkkraft selbst, und würde in der vorzüglich perfektiblen Denkkraft bestehen müssen.
Dazu kommt, daß dieser Charakter wiederum auf einen andern uns zurückweiset, den er voraussetzet. Perfektibilität ist eine Möglichkeit entwickelt zu wer- den. Muß diese Anlage nicht in absoluten Natur- beschaffenheiten ihren Grund haben? und das Vermö- gen, welches weiter gebracht werden kann, als andere, auch innerlich eine größere Naturkraft besitzen, woraus der länger anhaltende und weiter fortschreitende Drang begreiflich wird? Jndessen möchte dieß noch hingehen, denn wenn gleich ein solcher Charakter noch auf etwas anders hinweiset, und also wünschen läßt, daß wir den noch entferntern absoluten Grund möchten angeben kön- nen, so ist es noch eine Frage, ob man bey jedem andern angenommenen Grundcharakter tiefer in die Urkraft der Seele eindringe? Aber die erste Erinnerung halte ich für gegründet, daß doch zum mindesten noch näher die- jenigen Kräfte und Vermögen bestimmet werden müssen, in deren größern Perfektibilität eigentlich die Entwicke- lung zum Menschen, zum vorstellenden und denkenden und mit Freyheit handelnden Wesen ihren Grund habe.
4. Der
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der menſchlichen Seele ⁊c.
kraͤften. Allein von welchen? Das Gefuͤhl wird ent- wickelt, wird groͤßer und feiner gemacht. Daraus wird keine vorſtellende und denkende Kraft. Zu dieſer letztern iſt eine Entwickelung von einer beſondern Seite erfoder- lich, denn das fuͤhlende Weſen muß vornehmlich an Selbſtthaͤtigkeit zunehmen, wenn es zum Denken ſich erheben ſoll. Will Rouſſeau außer der Perfektibilitaͤt auch die Denkkraft zu dem voͤlligen Keim der Menſchheit gerechnet wiſſen, und jene als eine allgemeine Eigen- ſchaft aller Grundvermoͤgen anſehen, ſo gehoͤret ſie unter ſeine ſimpeln Unterſcheidungsmerkmale. Dann lieget der Grundcharakter ſchon in der Denkkraft ſelbſt, und wuͤrde in der vorzuͤglich perfektiblen Denkkraft beſtehen muͤſſen.
Dazu kommt, daß dieſer Charakter wiederum auf einen andern uns zuruͤckweiſet, den er vorausſetzet. Perfektibilitaͤt iſt eine Moͤglichkeit entwickelt zu wer- den. Muß dieſe Anlage nicht in abſoluten Natur- beſchaffenheiten ihren Grund haben? und das Vermoͤ- gen, welches weiter gebracht werden kann, als andere, auch innerlich eine groͤßere Naturkraft beſitzen, woraus der laͤnger anhaltende und weiter fortſchreitende Drang begreiflich wird? Jndeſſen moͤchte dieß noch hingehen, denn wenn gleich ein ſolcher Charakter noch auf etwas anders hinweiſet, und alſo wuͤnſchen laͤßt, daß wir den noch entferntern abſoluten Grund moͤchten angeben koͤn- nen, ſo iſt es noch eine Frage, ob man bey jedem andern angenommenen Grundcharakter tiefer in die Urkraft der Seele eindringe? Aber die erſte Erinnerung halte ich fuͤr gegruͤndet, daß doch zum mindeſten noch naͤher die- jenigen Kraͤfte und Vermoͤgen beſtimmet werden muͤſſen, in deren groͤßern Perfektibilitaͤt eigentlich die Entwicke- lung zum Menſchen, zum vorſtellenden und denkenden und mit Freyheit handelnden Weſen ihren Grund habe.
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der menſchlichen Seele ⁊c.
kraͤften. Allein von welchen? Das Gefuͤhl wird ent-
wickelt, wird groͤßer und feiner gemacht. Daraus wird
keine vorſtellende und denkende Kraft. Zu dieſer letztern
iſt eine Entwickelung von einer beſondern Seite erfoder-
lich, denn das fuͤhlende Weſen muß vornehmlich an
Selbſtthaͤtigkeit zunehmen, wenn es zum Denken ſich
erheben ſoll. Will Rouſſeau außer der Perfektibilitaͤt
auch die Denkkraft zu dem voͤlligen Keim der Menſchheit
gerechnet wiſſen, und jene als eine allgemeine Eigen-
ſchaft aller Grundvermoͤgen anſehen, ſo gehoͤret ſie unter
ſeine ſimpeln Unterſcheidungsmerkmale. Dann lieget
der Grundcharakter ſchon in der Denkkraft ſelbſt, und
wuͤrde in der vorzuͤglich perfektiblen Denkkraft beſtehen
muͤſſen.
Dazu kommt, daß dieſer Charakter wiederum auf
einen andern uns zuruͤckweiſet, den er vorausſetzet.
Perfektibilitaͤt iſt eine Moͤglichkeit entwickelt zu wer-
den. Muß dieſe Anlage nicht in abſoluten Natur-
beſchaffenheiten ihren Grund haben? und das Vermoͤ-
gen, welches weiter gebracht werden kann, als andere,
auch innerlich eine groͤßere Naturkraft beſitzen, woraus
der laͤnger anhaltende und weiter fortſchreitende Drang
begreiflich wird? Jndeſſen moͤchte dieß noch hingehen,
denn wenn gleich ein ſolcher Charakter noch auf etwas
anders hinweiſet, und alſo wuͤnſchen laͤßt, daß wir den
noch entferntern abſoluten Grund moͤchten angeben koͤn-
nen, ſo iſt es noch eine Frage, ob man bey jedem andern
angenommenen Grundcharakter tiefer in die Urkraft der
Seele eindringe? Aber die erſte Erinnerung halte ich
fuͤr gegruͤndet, daß doch zum mindeſten noch naͤher die-
jenigen Kraͤfte und Vermoͤgen beſtimmet werden muͤſſen,
in deren groͤßern Perfektibilitaͤt eigentlich die Entwicke-
lung zum Menſchen, zum vorſtellenden und denkenden
und mit Freyheit handelnden Weſen ihren Grund habe.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 743. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/803>, abgerufen am 24.11.2024.
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