Wenn die Seele im metaphysischen Verstande für das einfache, von dem organisirten Körper unterschiedene Wesen genommen wird, so führet uns die erstere Frage über das Unterscheidungsmerkmal der Menschenseele auf zwo andere. Jst die Entwickelung des Menschen eine Entwickelung jenes unkörperlichen Wesens, oder bestehet sie allein in der Entwickelung ihres organisirten Körpers, mit dem sie vereiniget ist? Nimmt sie selbst in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhöhung oder Ausbreitung ihrer Vermögen an, so bestehen alle ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geschicklichkeiten des Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Diensten zu seyn. Was bedarf sie alsdenn für einen Charakter als menschliche Seele? Jn der That gar keinen. Der Charakter des Menschen bestehet unter dieser Voraus- setzung allein in der besondern| Organisation des Gehirns, oder der Vorstellungsmaschine. Die Polypenseele, wenn es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent- wickelte Gehirn des Menschen versetzet, wird zu einer Menschenseele werden. Dieß haben schon mehrere und angesehene neuere Philosophen behauptet.
Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern Entwickelungen und Erhöhungen vor sich gehen, so kann gefraget werden, ob diese auch gewisse perfektible Be- schaffenheiten in ihrer eigenen besondern Natur voraus- setzen? Wenn es dabey allein auf den Körper ankommt, und eine Hundesseele in einem menschlichen Gehirn sich menschlich entwickelt haben würde, ohne irgend andere Grundanlagen zu besitzen, als sie in dem Gehirn des Hundes hat, wie kann, wenn es so wäre, nach dem Charakter der menschlichen Seele einmal gefraget wer- den? Alsdenn hat sie für sich nichts Eigenes vor jedem andern fühlenden Wesen voraus, nichts vor der Seele des Hundes, des Frosches oder der Auster.
Die
A a a 2
der menſchlichen Seele ⁊c.
Wenn die Seele im metaphyſiſchen Verſtande fuͤr das einfache, von dem organiſirten Koͤrper unterſchiedene Weſen genommen wird, ſo fuͤhret uns die erſtere Frage uͤber das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchenſeele auf zwo andere. Jſt die Entwickelung des Menſchen eine Entwickelung jenes unkoͤrperlichen Weſens, oder beſtehet ſie allein in der Entwickelung ihres organiſirten Koͤrpers, mit dem ſie vereiniget iſt? Nimmt ſie ſelbſt in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhoͤhung oder Ausbreitung ihrer Vermoͤgen an, ſo beſtehen alle ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geſchicklichkeiten des Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Dienſten zu ſeyn. Was bedarf ſie alsdenn fuͤr einen Charakter als menſchliche Seele? Jn der That gar keinen. Der Charakter des Menſchen beſtehet unter dieſer Voraus- ſetzung allein in der beſondern| Organiſation des Gehirns, oder der Vorſtellungsmaſchine. Die Polypenſeele, wenn es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent- wickelte Gehirn des Menſchen verſetzet, wird zu einer Menſchenſeele werden. Dieß haben ſchon mehrere und angeſehene neuere Philoſophen behauptet.
Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern Entwickelungen und Erhoͤhungen vor ſich gehen, ſo kann gefraget werden, ob dieſe auch gewiſſe perfektible Be- ſchaffenheiten in ihrer eigenen beſondern Natur voraus- ſetzen? Wenn es dabey allein auf den Koͤrper ankommt, und eine Hundesſeele in einem menſchlichen Gehirn ſich menſchlich entwickelt haben wuͤrde, ohne irgend andere Grundanlagen zu beſitzen, als ſie in dem Gehirn des Hundes hat, wie kann, wenn es ſo waͤre, nach dem Charakter der menſchlichen Seele einmal gefraget wer- den? Alsdenn hat ſie fuͤr ſich nichts Eigenes vor jedem andern fuͤhlenden Weſen voraus, nichts vor der Seele des Hundes, des Froſches oder der Auſter.
Die
A a a 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0799"n="739"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der menſchlichen Seele ⁊c.</hi></fw><lb/><p>Wenn die Seele im metaphyſiſchen Verſtande fuͤr<lb/>
das einfache, von dem organiſirten Koͤrper unterſchiedene<lb/>
Weſen genommen wird, ſo fuͤhret uns die erſtere Frage<lb/>
uͤber das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchenſeele auf<lb/>
zwo andere. Jſt die Entwickelung des <hirendition="#fr">Menſchen</hi> eine<lb/><hirendition="#fr">Entwickelung jenes unkoͤrperlichen Weſens,</hi> oder<lb/>
beſtehet ſie allein in der Entwickelung ihres organiſirten<lb/>
Koͤrpers, mit dem ſie vereiniget iſt? Nimmt ſie ſelbſt<lb/>
in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhoͤhung<lb/>
oder Ausbreitung ihrer Vermoͤgen an, ſo beſtehen alle<lb/>
ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geſchicklichkeiten des<lb/>
Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Dienſten zu<lb/>ſeyn. Was bedarf ſie alsdenn fuͤr einen Charakter als<lb/>
menſchliche Seele? Jn der That gar keinen. Der<lb/>
Charakter des Menſchen beſtehet unter dieſer Voraus-<lb/>ſetzung allein in der beſondern| Organiſation des Gehirns,<lb/>
oder der Vorſtellungsmaſchine. Die Polypenſeele, wenn<lb/>
es eine giebt, wie Hr. <hirendition="#fr">Unzer</hi> nicht meinet, in das ent-<lb/>
wickelte Gehirn des Menſchen verſetzet, wird zu einer<lb/>
Menſchenſeele werden. Dieß haben ſchon mehrere und<lb/>
angeſehene neuere Philoſophen behauptet.</p><lb/><p>Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern<lb/>
Entwickelungen und Erhoͤhungen vor ſich gehen, ſo kann<lb/>
gefraget werden, ob dieſe auch gewiſſe perfektible Be-<lb/>ſchaffenheiten in ihrer eigenen beſondern Natur voraus-<lb/>ſetzen? Wenn es dabey allein auf den Koͤrper ankommt,<lb/>
und eine Hundesſeele in einem menſchlichen Gehirn ſich<lb/>
menſchlich entwickelt haben wuͤrde, ohne irgend andere<lb/>
Grundanlagen zu beſitzen, als ſie in dem Gehirn des<lb/>
Hundes hat, wie kann, wenn es ſo waͤre, nach dem<lb/>
Charakter der menſchlichen Seele einmal gefraget wer-<lb/>
den? Alsdenn hat ſie fuͤr ſich nichts Eigenes vor jedem<lb/>
andern fuͤhlenden Weſen voraus, nichts vor der Seele<lb/>
des Hundes, des Froſches oder der Auſter.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">A a a 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[739/0799]
der menſchlichen Seele ⁊c.
Wenn die Seele im metaphyſiſchen Verſtande fuͤr
das einfache, von dem organiſirten Koͤrper unterſchiedene
Weſen genommen wird, ſo fuͤhret uns die erſtere Frage
uͤber das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchenſeele auf
zwo andere. Jſt die Entwickelung des Menſchen eine
Entwickelung jenes unkoͤrperlichen Weſens, oder
beſtehet ſie allein in der Entwickelung ihres organiſirten
Koͤrpers, mit dem ſie vereiniget iſt? Nimmt ſie ſelbſt
in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhoͤhung
oder Ausbreitung ihrer Vermoͤgen an, ſo beſtehen alle
ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geſchicklichkeiten des
Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Dienſten zu
ſeyn. Was bedarf ſie alsdenn fuͤr einen Charakter als
menſchliche Seele? Jn der That gar keinen. Der
Charakter des Menſchen beſtehet unter dieſer Voraus-
ſetzung allein in der beſondern| Organiſation des Gehirns,
oder der Vorſtellungsmaſchine. Die Polypenſeele, wenn
es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent-
wickelte Gehirn des Menſchen verſetzet, wird zu einer
Menſchenſeele werden. Dieß haben ſchon mehrere und
angeſehene neuere Philoſophen behauptet.
Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern
Entwickelungen und Erhoͤhungen vor ſich gehen, ſo kann
gefraget werden, ob dieſe auch gewiſſe perfektible Be-
ſchaffenheiten in ihrer eigenen beſondern Natur voraus-
ſetzen? Wenn es dabey allein auf den Koͤrper ankommt,
und eine Hundesſeele in einem menſchlichen Gehirn ſich
menſchlich entwickelt haben wuͤrde, ohne irgend andere
Grundanlagen zu beſitzen, als ſie in dem Gehirn des
Hundes hat, wie kann, wenn es ſo waͤre, nach dem
Charakter der menſchlichen Seele einmal gefraget wer-
den? Alsdenn hat ſie fuͤr ſich nichts Eigenes vor jedem
andern fuͤhlenden Weſen voraus, nichts vor der Seele
des Hundes, des Froſches oder der Auſter.
Die
A a a 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/799>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.