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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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I. Versuch. Ueber die Natur
Alsdenn sind sie für uns Abbildungen von andern
Dingen.

Auf die Wand eines verfinsterten Zimmers fällt ein
Bild von der Sonne durch die gegen über gemachte Oef-
nung; wird die Oefnung wiederum verschlossen, so ist
nichts auf der Wand von jenem Bilde zurückgeblieben.
Wenn das Wasser, worinnen ein Stein geworfen wird,
in runden Kraisen aufwallet, und wieder zu seinem vo-
rigen Ebenstand zurücke fällt; so ist keine Spur mehr
von den gemachten Kraisen vorhanden, so wenig, als
von dem Lauf des Schiffes in den Wellen, wenn sich
der Schaum zerstreuet hat. Eine Saite höret auf zu
zittern, die vorhero angeschlagen war, und kommt wie-
der zu ihrer ersten Lage zurück. Hier sind weder das
Bild an der Wand, noch der Krais im Wasser, noch
die Schwingungen in der Saite Vorstellungen. Es
giebt keine bleibende Folgen von ihnen in den Dingen,
die solche Veränderungen in oder an sich erlitten haben.
Aber wenn es auch solche giebet; wenn die einmal ge-
schlagene Saite auch dadurch eine Leichtigkeit empfängt,
künftig wiederum auf dieselbe Art zu schwingen, und
schneller zu schwingen, die sie wirklich in einem gewissen
Grade empfänget; so kann sie von ihrer empfangenen
oder gestärkten Disposition zum Schwingen, doch nicht
aus sich selbst wiederum zu einem wirklichen Schwung
hinübergehen. Soll ihr voriger Zustand in ihr erneuret
werden; so muß sie wiederum von neuem angeschlagen
oder angestoßen werden, wie vorher. Sie muß von neu-
em also gebildet werden, wie sie es vorher war; sie selbst
kann sich nicht nachbilden. Sie hat also keine Vorstel-
lungen, wie die menschliche Seele hat.

7) Ob diese Vorstellungen, diese bleibende Spuren,
Dispositionen oder Abdrücke vorhergegangener Verände-
rungen in dem organisirten Gehirn sich befinden, in dem
sensorio communi, in den innern Organen, in der

Vor-

I. Verſuch. Ueber die Natur
Alsdenn ſind ſie fuͤr uns Abbildungen von andern
Dingen.

Auf die Wand eines verfinſterten Zimmers faͤllt ein
Bild von der Sonne durch die gegen uͤber gemachte Oef-
nung; wird die Oefnung wiederum verſchloſſen, ſo iſt
nichts auf der Wand von jenem Bilde zuruͤckgeblieben.
Wenn das Waſſer, worinnen ein Stein geworfen wird,
in runden Kraiſen aufwallet, und wieder zu ſeinem vo-
rigen Ebenſtand zuruͤcke faͤllt; ſo iſt keine Spur mehr
von den gemachten Kraiſen vorhanden, ſo wenig, als
von dem Lauf des Schiffes in den Wellen, wenn ſich
der Schaum zerſtreuet hat. Eine Saite hoͤret auf zu
zittern, die vorhero angeſchlagen war, und kommt wie-
der zu ihrer erſten Lage zuruͤck. Hier ſind weder das
Bild an der Wand, noch der Krais im Waſſer, noch
die Schwingungen in der Saite Vorſtellungen. Es
giebt keine bleibende Folgen von ihnen in den Dingen,
die ſolche Veraͤnderungen in oder an ſich erlitten haben.
Aber wenn es auch ſolche giebet; wenn die einmal ge-
ſchlagene Saite auch dadurch eine Leichtigkeit empfaͤngt,
kuͤnftig wiederum auf dieſelbe Art zu ſchwingen, und
ſchneller zu ſchwingen, die ſie wirklich in einem gewiſſen
Grade empfaͤnget; ſo kann ſie von ihrer empfangenen
oder geſtaͤrkten Dispoſition zum Schwingen, doch nicht
aus ſich ſelbſt wiederum zu einem wirklichen Schwung
hinuͤbergehen. Soll ihr voriger Zuſtand in ihr erneuret
werden; ſo muß ſie wiederum von neuem angeſchlagen
oder angeſtoßen werden, wie vorher. Sie muß von neu-
em alſo gebildet werden, wie ſie es vorher war; ſie ſelbſt
kann ſich nicht nachbilden. Sie hat alſo keine Vorſtel-
lungen, wie die menſchliche Seele hat.

7) Ob dieſe Vorſtellungen, dieſe bleibende Spuren,
Dispoſitionen oder Abdruͤcke vorhergegangener Veraͤnde-
rungen in dem organiſirten Gehirn ſich befinden, in dem
ſenſorio communi, in den innern Organen, in der

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[18/0078] I. Verſuch. Ueber die Natur Alsdenn ſind ſie fuͤr uns Abbildungen von andern Dingen. Auf die Wand eines verfinſterten Zimmers faͤllt ein Bild von der Sonne durch die gegen uͤber gemachte Oef- nung; wird die Oefnung wiederum verſchloſſen, ſo iſt nichts auf der Wand von jenem Bilde zuruͤckgeblieben. Wenn das Waſſer, worinnen ein Stein geworfen wird, in runden Kraiſen aufwallet, und wieder zu ſeinem vo- rigen Ebenſtand zuruͤcke faͤllt; ſo iſt keine Spur mehr von den gemachten Kraiſen vorhanden, ſo wenig, als von dem Lauf des Schiffes in den Wellen, wenn ſich der Schaum zerſtreuet hat. Eine Saite hoͤret auf zu zittern, die vorhero angeſchlagen war, und kommt wie- der zu ihrer erſten Lage zuruͤck. Hier ſind weder das Bild an der Wand, noch der Krais im Waſſer, noch die Schwingungen in der Saite Vorſtellungen. Es giebt keine bleibende Folgen von ihnen in den Dingen, die ſolche Veraͤnderungen in oder an ſich erlitten haben. Aber wenn es auch ſolche giebet; wenn die einmal ge- ſchlagene Saite auch dadurch eine Leichtigkeit empfaͤngt, kuͤnftig wiederum auf dieſelbe Art zu ſchwingen, und ſchneller zu ſchwingen, die ſie wirklich in einem gewiſſen Grade empfaͤnget; ſo kann ſie von ihrer empfangenen oder geſtaͤrkten Dispoſition zum Schwingen, doch nicht aus ſich ſelbſt wiederum zu einem wirklichen Schwung hinuͤbergehen. Soll ihr voriger Zuſtand in ihr erneuret werden; ſo muß ſie wiederum von neuem angeſchlagen oder angeſtoßen werden, wie vorher. Sie muß von neu- em alſo gebildet werden, wie ſie es vorher war; ſie ſelbſt kann ſich nicht nachbilden. Sie hat alſo keine Vorſtel- lungen, wie die menſchliche Seele hat. 7) Ob dieſe Vorſtellungen, dieſe bleibende Spuren, Dispoſitionen oder Abdruͤcke vorhergegangener Veraͤnde- rungen in dem organiſirten Gehirn ſich befinden, in dem ſenſorio communi, in den innern Organen, in der Vor-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/78>, abgerufen am 21.11.2024.