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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungskraft etc.
das ist es, was durch das Sehwerkzeug bewerkstelliget
wird, als welches so eingerichtet ist, daß es nur das
Licht, als Licht, oder doch dieses nur vorzüglich durch-
läßt. Wenn die Sache sich bey den übrigen Sinnen
eben so verhält, so kann man sagen, daß auch ein sechs-
ter und siebenter Sinn uns keine neue Welt, keine neue
Dinge, keine neue Kräfte, sondern nur neue Seiten
eben derselbigen Kräfte darstellen und kennen lehren
würde.

Dieser Satz gehört nicht zu den Erfahrungssätzen,
und kann ohne Raisonnement nicht erwiesen werden. Jch
führe ihn daher auch nur beyläufig an. Aber wenn wir
ihn einmal als bestätiget annehmen, so läßt sich daraus
für die letzterwähnte Frage folgende Antwort geben:

"Wenn es wirkliche Objekte giebt, oder Kräfte und
"Beschaffenheiten von ihnen, von denen wir keine Em-
"pfindungen haben, so liegt das nicht daran, weil unsere
"Seele überall keine Empfänglichkeit für sie hat; sie kann
"wirklich von ihnen modificiret seyn, ihre Eindrücke in
"Vermischung mit andern aufnehmen, und auf sie zu-
"rückwirken, und, wie Leibnitz und Wolf sagten,
"dunkel empfinden; sondern es liegt daran, daß es an
"einem so eingerichteten Sinngliede fehlet, welches diese
"Art von Eindrücken für sich allein der Seele zuführen
"könnte." Jndessen kann man noch dieß hinzusetzen.
Da unser weiser Urheber unsere Sinnglieder der innern
Natur der Seele völlig angemessen gebildet hat, so müsse
wohl die Seele noch nicht aufgelegt gewesen seyn, meh-
rere Gattungen von Jmpressionen abgesondert anzuneh-
men, als wir wirklich empfangen; oder zum mindesten
müsse es ihr in ihrem jetzigen Zustande nicht zuträglich
gewesen seyn, sie so zu empfangen.

3. Laßt
Y y 3

der Vorſtellungskraft ⁊c.
das iſt es, was durch das Sehwerkzeug bewerkſtelliget
wird, als welches ſo eingerichtet iſt, daß es nur das
Licht, als Licht, oder doch dieſes nur vorzuͤglich durch-
laͤßt. Wenn die Sache ſich bey den uͤbrigen Sinnen
eben ſo verhaͤlt, ſo kann man ſagen, daß auch ein ſechs-
ter und ſiebenter Sinn uns keine neue Welt, keine neue
Dinge, keine neue Kraͤfte, ſondern nur neue Seiten
eben derſelbigen Kraͤfte darſtellen und kennen lehren
wuͤrde.

Dieſer Satz gehoͤrt nicht zu den Erfahrungsſaͤtzen,
und kann ohne Raiſonnement nicht erwieſen werden. Jch
fuͤhre ihn daher auch nur beylaͤufig an. Aber wenn wir
ihn einmal als beſtaͤtiget annehmen, ſo laͤßt ſich daraus
fuͤr die letzterwaͤhnte Frage folgende Antwort geben:

„Wenn es wirkliche Objekte giebt, oder Kraͤfte und
„Beſchaffenheiten von ihnen, von denen wir keine Em-
„pfindungen haben, ſo liegt das nicht daran, weil unſere
„Seele uͤberall keine Empfaͤnglichkeit fuͤr ſie hat; ſie kann
„wirklich von ihnen modificiret ſeyn, ihre Eindruͤcke in
„Vermiſchung mit andern aufnehmen, und auf ſie zu-
„ruͤckwirken, und, wie Leibnitz und Wolf ſagten,
„dunkel empfinden; ſondern es liegt daran, daß es an
„einem ſo eingerichteten Sinngliede fehlet, welches dieſe
„Art von Eindruͤcken fuͤr ſich allein der Seele zufuͤhren
„koͤnnte.‟ Jndeſſen kann man noch dieß hinzuſetzen.
Da unſer weiſer Urheber unſere Sinnglieder der innern
Natur der Seele voͤllig angemeſſen gebildet hat, ſo muͤſſe
wohl die Seele noch nicht aufgelegt geweſen ſeyn, meh-
rere Gattungen von Jmpreſſionen abgeſondert anzuneh-
men, als wir wirklich empfangen; oder zum mindeſten
muͤſſe es ihr in ihrem jetzigen Zuſtande nicht zutraͤglich
geweſen ſeyn, ſie ſo zu empfangen.

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[709/0769] der Vorſtellungskraft ⁊c. das iſt es, was durch das Sehwerkzeug bewerkſtelliget wird, als welches ſo eingerichtet iſt, daß es nur das Licht, als Licht, oder doch dieſes nur vorzuͤglich durch- laͤßt. Wenn die Sache ſich bey den uͤbrigen Sinnen eben ſo verhaͤlt, ſo kann man ſagen, daß auch ein ſechs- ter und ſiebenter Sinn uns keine neue Welt, keine neue Dinge, keine neue Kraͤfte, ſondern nur neue Seiten eben derſelbigen Kraͤfte darſtellen und kennen lehren wuͤrde. Dieſer Satz gehoͤrt nicht zu den Erfahrungsſaͤtzen, und kann ohne Raiſonnement nicht erwieſen werden. Jch fuͤhre ihn daher auch nur beylaͤufig an. Aber wenn wir ihn einmal als beſtaͤtiget annehmen, ſo laͤßt ſich daraus fuͤr die letzterwaͤhnte Frage folgende Antwort geben: „Wenn es wirkliche Objekte giebt, oder Kraͤfte und „Beſchaffenheiten von ihnen, von denen wir keine Em- „pfindungen haben, ſo liegt das nicht daran, weil unſere „Seele uͤberall keine Empfaͤnglichkeit fuͤr ſie hat; ſie kann „wirklich von ihnen modificiret ſeyn, ihre Eindruͤcke in „Vermiſchung mit andern aufnehmen, und auf ſie zu- „ruͤckwirken, und, wie Leibnitz und Wolf ſagten, „dunkel empfinden; ſondern es liegt daran, daß es an „einem ſo eingerichteten Sinngliede fehlet, welches dieſe „Art von Eindruͤcken fuͤr ſich allein der Seele zufuͤhren „koͤnnte.‟ Jndeſſen kann man noch dieß hinzuſetzen. Da unſer weiſer Urheber unſere Sinnglieder der innern Natur der Seele voͤllig angemeſſen gebildet hat, ſo muͤſſe wohl die Seele noch nicht aufgelegt geweſen ſeyn, meh- rere Gattungen von Jmpreſſionen abgeſondert anzuneh- men, als wir wirklich empfangen; oder zum mindeſten muͤſſe es ihr in ihrem jetzigen Zuſtande nicht zutraͤglich geweſen ſeyn, ſie ſo zu empfangen. 3. Laßt Y y 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/769>, abgerufen am 24.11.2024.