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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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X. Versuch. Ueber die Beziehung
Wenn es mich gähnen sieht, weis es eben so wenig,
daß ich gähne, als es weiß, daß ich lache oder weine.

Wie denn die Nachmachung sogleich unmittelbar
auf den Anblick der nachgemachten Handlung erfolge? so
daß man die dazwischen liegende wiedererweckte Vorstel-
lung von der Aktion |fast nicht gewahr wird? Jch ant-
worte, es sey nichts mehr dazwischen nöthig, als wir
wirklich finden. Wenn wir die Handlung bey einem
Andern sehen, so bedarf es keiner sorgfältigen, weitläuf-
tigen und deutlichen Vergleichung dieser Außenseite
von ihr, mit der von unserer eigenen ähnlichen Handlung,
und keines förmlichen Urtheils. Jene Vorstellung von
dem was wir sehen, ist schon für sich einerley mit einem
Theil der ganzen Vorstellung von unserer eigenen Aktion,
und dann stellet die Phantasie das Uebrige nach dem be-
kannten Gesetz der Association dar.

Diese beiden aufgelöseten Beyspiele von der Nach-
machung fremder Handlungen, führen uns auf die ein-
fachen Naturfähigkeiten, die in dem Nachahmungs-
vermögen
enthalten sind. Unter allen zur Entwicke-
lung unserer Natur arbeitenden Kräften, ist dieß Ver-
mögen eins der stärksten. Wir haben in unserer Spra-
che die Wörter: Nachthun, Nachmachen, Nach-
ahmen, Nachäffen, Nachbilden, Nachbestre-
ben, Nacheifern.
Sie sind in ihren Bedeutungen
in etwas verschieden, beziehen sich aber doch auf einen
Grundbegriff des Nachmachens. Nachahmen ist im-
mer etwas willkührliches, und erfodert Aktionen, die
nach dem Muster anderer gemacht sind, auf die Art,
wie der Knabe seine Vorschrift nachschreibet oder nach-
zeichnet; und eine andere Nebenidee ist noch diese, daß
gemeiniglich die Nachahmung mehr auf die Form der
Handlung, nemlich, auf die Art und Weise, wie sie
verrichtet wird, und auf die Wirkung, in so ferne sie
von dieser Form abhängt, als auf das Materielle von

beiden

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
Wenn es mich gaͤhnen ſieht, weis es eben ſo wenig,
daß ich gaͤhne, als es weiß, daß ich lache oder weine.

Wie denn die Nachmachung ſogleich unmittelbar
auf den Anblick der nachgemachten Handlung erfolge? ſo
daß man die dazwiſchen liegende wiedererweckte Vorſtel-
lung von der Aktion |faſt nicht gewahr wird? Jch ant-
worte, es ſey nichts mehr dazwiſchen noͤthig, als wir
wirklich finden. Wenn wir die Handlung bey einem
Andern ſehen, ſo bedarf es keiner ſorgfaͤltigen, weitlaͤuf-
tigen und deutlichen Vergleichung dieſer Außenſeite
von ihr, mit der von unſerer eigenen aͤhnlichen Handlung,
und keines foͤrmlichen Urtheils. Jene Vorſtellung von
dem was wir ſehen, iſt ſchon fuͤr ſich einerley mit einem
Theil der ganzen Vorſtellung von unſerer eigenen Aktion,
und dann ſtellet die Phantaſie das Uebrige nach dem be-
kannten Geſetz der Aſſociation dar.

Dieſe beiden aufgeloͤſeten Beyſpiele von der Nach-
machung fremder Handlungen, fuͤhren uns auf die ein-
fachen Naturfaͤhigkeiten, die in dem Nachahmungs-
vermoͤgen
enthalten ſind. Unter allen zur Entwicke-
lung unſerer Natur arbeitenden Kraͤften, iſt dieß Ver-
moͤgen eins der ſtaͤrkſten. Wir haben in unſerer Spra-
che die Woͤrter: Nachthun, Nachmachen, Nach-
ahmen, Nachaͤffen, Nachbilden, Nachbeſtre-
ben, Nacheifern.
Sie ſind in ihren Bedeutungen
in etwas verſchieden, beziehen ſich aber doch auf einen
Grundbegriff des Nachmachens. Nachahmen iſt im-
mer etwas willkuͤhrliches, und erfodert Aktionen, die
nach dem Muſter anderer gemacht ſind, auf die Art,
wie der Knabe ſeine Vorſchrift nachſchreibet oder nach-
zeichnet; und eine andere Nebenidee iſt noch dieſe, daß
gemeiniglich die Nachahmung mehr auf die Form der
Handlung, nemlich, auf die Art und Weiſe, wie ſie
verrichtet wird, und auf die Wirkung, in ſo ferne ſie
von dieſer Form abhaͤngt, als auf das Materielle von

beiden
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[672/0732] X. Verſuch. Ueber die Beziehung Wenn es mich gaͤhnen ſieht, weis es eben ſo wenig, daß ich gaͤhne, als es weiß, daß ich lache oder weine. Wie denn die Nachmachung ſogleich unmittelbar auf den Anblick der nachgemachten Handlung erfolge? ſo daß man die dazwiſchen liegende wiedererweckte Vorſtel- lung von der Aktion |faſt nicht gewahr wird? Jch ant- worte, es ſey nichts mehr dazwiſchen noͤthig, als wir wirklich finden. Wenn wir die Handlung bey einem Andern ſehen, ſo bedarf es keiner ſorgfaͤltigen, weitlaͤuf- tigen und deutlichen Vergleichung dieſer Außenſeite von ihr, mit der von unſerer eigenen aͤhnlichen Handlung, und keines foͤrmlichen Urtheils. Jene Vorſtellung von dem was wir ſehen, iſt ſchon fuͤr ſich einerley mit einem Theil der ganzen Vorſtellung von unſerer eigenen Aktion, und dann ſtellet die Phantaſie das Uebrige nach dem be- kannten Geſetz der Aſſociation dar. Dieſe beiden aufgeloͤſeten Beyſpiele von der Nach- machung fremder Handlungen, fuͤhren uns auf die ein- fachen Naturfaͤhigkeiten, die in dem Nachahmungs- vermoͤgen enthalten ſind. Unter allen zur Entwicke- lung unſerer Natur arbeitenden Kraͤften, iſt dieß Ver- moͤgen eins der ſtaͤrkſten. Wir haben in unſerer Spra- che die Woͤrter: Nachthun, Nachmachen, Nach- ahmen, Nachaͤffen, Nachbilden, Nachbeſtre- ben, Nacheifern. Sie ſind in ihren Bedeutungen in etwas verſchieden, beziehen ſich aber doch auf einen Grundbegriff des Nachmachens. Nachahmen iſt im- mer etwas willkuͤhrliches, und erfodert Aktionen, die nach dem Muſter anderer gemacht ſind, auf die Art, wie der Knabe ſeine Vorſchrift nachſchreibet oder nach- zeichnet; und eine andere Nebenidee iſt noch dieſe, daß gemeiniglich die Nachahmung mehr auf die Form der Handlung, nemlich, auf die Art und Weiſe, wie ſie verrichtet wird, und auf die Wirkung, in ſo ferne ſie von dieſer Form abhaͤngt, als auf das Materielle von beiden

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/732>, abgerufen am 22.11.2024.