Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

des Empfindens, des Vorstellens etc.
Je mehr die zuerst aufgenommene Veränderungen oder
Empfindungen zu Vorstellungen geworden sind, und je
selbstthätiger wir sie als Vorstellungen wieder erwecken,
verbinden und trennen, und in gewisse Stellungen in
uns bringen können, desto leichter urtheilen wir über sie,
und desto mehrere Verhältnisse und Beziehungen erken-
nen wir in ihnen.

Das höhere Denken erfodert allgemeine Bilder.
Diese befassen wenigere und schwächere Züge in sich, als
die Empfindungsvorstellungen, von denen sie der feinste
Auszug sind. Sie machen die Gegenstände und die
Materie aus, welche die höhere Vernunft bearbeitet,
wenn sie allgemeine Verhältnisse ausforschet, die unsere
eingeschränkte Kraft nur alsdenn deutlich zu bemerken
vermögend wird, wenn sie das Aehnliche und Allgemei-
ne in den absoluten Beschaffenheiten der Dinge abson-
dert, und es abgesondert in sich gegenwärtig erhalten
kann. Die sinnlichen Bilder von einzelnen Dingen sind
viel zu stark und zu reichhaltig, um von der Eigenmacht
der Seele in so mancherley Stellungen und Verbindun-
gen gebracht, und so selbstthätig bearbeitet zu werden, als
zur Bemerkung allgemeiner Verhältnisse und Beziehun-
gen erfodert wird.

Ferner. Alle allgemeine Denkungsgesetze, wonach
die Denkkraft Verhältnisse und Beziehungen noth-
wendig denken muß, entsprechen gewissen ähnlichen Ge-
setzen der Vorstellungskraft, nach welchen diese ihre
Bilder bearbeiten muß. Zum Exempel:

Jene kann nicht zugleich denken und auch nicht den-
ken. Aber eben so wenig kann diese zugleich eine Vor-
stellung haben, und nicht haben.

Die Denkkraft urtheilt über die ursachliche Bezie-
hung. Aber welche Dinge hält sie nothwendig für ab-
hängig von einander, und warum hält sie solche dafür?
darum, weil die Vorstellungen dieser Gegenstände in

der
P p 2

des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c.
Je mehr die zuerſt aufgenommene Veraͤnderungen oder
Empfindungen zu Vorſtellungen geworden ſind, und je
ſelbſtthaͤtiger wir ſie als Vorſtellungen wieder erwecken,
verbinden und trennen, und in gewiſſe Stellungen in
uns bringen koͤnnen, deſto leichter urtheilen wir uͤber ſie,
und deſto mehrere Verhaͤltniſſe und Beziehungen erken-
nen wir in ihnen.

Das hoͤhere Denken erfodert allgemeine Bilder.
Dieſe befaſſen wenigere und ſchwaͤchere Zuͤge in ſich, als
die Empfindungsvorſtellungen, von denen ſie der feinſte
Auszug ſind. Sie machen die Gegenſtaͤnde und die
Materie aus, welche die hoͤhere Vernunft bearbeitet,
wenn ſie allgemeine Verhaͤltniſſe ausforſchet, die unſere
eingeſchraͤnkte Kraft nur alsdenn deutlich zu bemerken
vermoͤgend wird, wenn ſie das Aehnliche und Allgemei-
ne in den abſoluten Beſchaffenheiten der Dinge abſon-
dert, und es abgeſondert in ſich gegenwaͤrtig erhalten
kann. Die ſinnlichen Bilder von einzelnen Dingen ſind
viel zu ſtark und zu reichhaltig, um von der Eigenmacht
der Seele in ſo mancherley Stellungen und Verbindun-
gen gebracht, und ſo ſelbſtthaͤtig bearbeitet zu werden, als
zur Bemerkung allgemeiner Verhaͤltniſſe und Beziehun-
gen erfodert wird.

Ferner. Alle allgemeine Denkungsgeſetze, wonach
die Denkkraft Verhaͤltniſſe und Beziehungen noth-
wendig denken muß, entſprechen gewiſſen aͤhnlichen Ge-
ſetzen der Vorſtellungskraft, nach welchen dieſe ihre
Bilder bearbeiten muß. Zum Exempel:

Jene kann nicht zugleich denken und auch nicht den-
ken. Aber eben ſo wenig kann dieſe zugleich eine Vor-
ſtellung haben, und nicht haben.

Die Denkkraft urtheilt uͤber die urſachliche Bezie-
hung. Aber welche Dinge haͤlt ſie nothwendig fuͤr ab-
haͤngig von einander, und warum haͤlt ſie ſolche dafuͤr?
darum, weil die Vorſtellungen dieſer Gegenſtaͤnde in

der
P p 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0655" n="595"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Empfindens, des Vor&#x017F;tellens &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
Je mehr die zuer&#x017F;t aufgenommene Vera&#x0364;nderungen oder<lb/>
Empfindungen zu Vor&#x017F;tellungen geworden &#x017F;ind, und je<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tiger wir &#x017F;ie als Vor&#x017F;tellungen wieder erwecken,<lb/>
verbinden und trennen, und in gewi&#x017F;&#x017F;e Stellungen in<lb/>
uns bringen ko&#x0364;nnen, de&#x017F;to leichter urtheilen wir u&#x0364;ber &#x017F;ie,<lb/>
und de&#x017F;to mehrere Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Beziehungen erken-<lb/>
nen wir in ihnen.</p><lb/>
          <p>Das ho&#x0364;here Denken erfodert <hi rendition="#fr">allgemeine</hi> Bilder.<lb/>
Die&#x017F;e befa&#x017F;&#x017F;en wenigere und &#x017F;chwa&#x0364;chere Zu&#x0364;ge in &#x017F;ich, als<lb/>
die Empfindungsvor&#x017F;tellungen, von denen &#x017F;ie der fein&#x017F;te<lb/>
Auszug &#x017F;ind. Sie machen die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde und die<lb/>
Materie aus, welche die ho&#x0364;here Vernunft bearbeitet,<lb/>
wenn &#x017F;ie allgemeine Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e ausfor&#x017F;chet, die un&#x017F;ere<lb/>
einge&#x017F;chra&#x0364;nkte Kraft nur alsdenn deutlich zu bemerken<lb/>
vermo&#x0364;gend wird, wenn &#x017F;ie das Aehnliche und Allgemei-<lb/>
ne in den ab&#x017F;oluten Be&#x017F;chaffenheiten der Dinge ab&#x017F;on-<lb/>
dert, und es abge&#x017F;ondert in &#x017F;ich gegenwa&#x0364;rtig erhalten<lb/>
kann. Die &#x017F;innlichen Bilder von einzelnen Dingen &#x017F;ind<lb/>
viel zu &#x017F;tark und zu reichhaltig, um von der Eigenmacht<lb/>
der Seele in &#x017F;o mancherley Stellungen und Verbindun-<lb/>
gen gebracht, und &#x017F;o &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tig bearbeitet zu werden, als<lb/>
zur Bemerkung allgemeiner Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Beziehun-<lb/>
gen erfodert wird.</p><lb/>
          <p>Ferner. Alle allgemeine Denkungsge&#x017F;etze, wonach<lb/>
die Denkkraft Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Beziehungen noth-<lb/>
wendig denken muß, ent&#x017F;prechen gewi&#x017F;&#x017F;en a&#x0364;hnlichen Ge-<lb/>
&#x017F;etzen der <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tellungskraft,</hi> nach welchen die&#x017F;e ihre<lb/>
Bilder bearbeiten muß. Zum Exempel:</p><lb/>
          <p>Jene kann nicht zugleich denken und auch nicht den-<lb/>
ken. Aber eben &#x017F;o wenig kann die&#x017F;e zugleich eine Vor-<lb/>
&#x017F;tellung haben, und nicht haben.</p><lb/>
          <p>Die Denkkraft urtheilt u&#x0364;ber die ur&#x017F;achliche Bezie-<lb/>
hung. Aber welche Dinge ha&#x0364;lt &#x017F;ie nothwendig fu&#x0364;r ab-<lb/>
ha&#x0364;ngig von einander, und warum ha&#x0364;lt &#x017F;ie &#x017F;olche dafu&#x0364;r?<lb/>
darum, weil die Vor&#x017F;tellungen die&#x017F;er Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde in<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P p 2</fw><fw place="bottom" type="catch">der</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[595/0655] des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c. Je mehr die zuerſt aufgenommene Veraͤnderungen oder Empfindungen zu Vorſtellungen geworden ſind, und je ſelbſtthaͤtiger wir ſie als Vorſtellungen wieder erwecken, verbinden und trennen, und in gewiſſe Stellungen in uns bringen koͤnnen, deſto leichter urtheilen wir uͤber ſie, und deſto mehrere Verhaͤltniſſe und Beziehungen erken- nen wir in ihnen. Das hoͤhere Denken erfodert allgemeine Bilder. Dieſe befaſſen wenigere und ſchwaͤchere Zuͤge in ſich, als die Empfindungsvorſtellungen, von denen ſie der feinſte Auszug ſind. Sie machen die Gegenſtaͤnde und die Materie aus, welche die hoͤhere Vernunft bearbeitet, wenn ſie allgemeine Verhaͤltniſſe ausforſchet, die unſere eingeſchraͤnkte Kraft nur alsdenn deutlich zu bemerken vermoͤgend wird, wenn ſie das Aehnliche und Allgemei- ne in den abſoluten Beſchaffenheiten der Dinge abſon- dert, und es abgeſondert in ſich gegenwaͤrtig erhalten kann. Die ſinnlichen Bilder von einzelnen Dingen ſind viel zu ſtark und zu reichhaltig, um von der Eigenmacht der Seele in ſo mancherley Stellungen und Verbindun- gen gebracht, und ſo ſelbſtthaͤtig bearbeitet zu werden, als zur Bemerkung allgemeiner Verhaͤltniſſe und Beziehun- gen erfodert wird. Ferner. Alle allgemeine Denkungsgeſetze, wonach die Denkkraft Verhaͤltniſſe und Beziehungen noth- wendig denken muß, entſprechen gewiſſen aͤhnlichen Ge- ſetzen der Vorſtellungskraft, nach welchen dieſe ihre Bilder bearbeiten muß. Zum Exempel: Jene kann nicht zugleich denken und auch nicht den- ken. Aber eben ſo wenig kann dieſe zugleich eine Vor- ſtellung haben, und nicht haben. Die Denkkraft urtheilt uͤber die urſachliche Bezie- hung. Aber welche Dinge haͤlt ſie nothwendig fuͤr ab- haͤngig von einander, und warum haͤlt ſie ſolche dafuͤr? darum, weil die Vorſtellungen dieſer Gegenſtaͤnde in der P p 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/655
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 595. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/655>, abgerufen am 10.06.2024.