sie ist es nicht in ihrem Umfang, wo sie sich mit unend- licher Abwechselung und Mannigfaltigkeit zeiget. Wie weit stehen wir von jenem Jnnern noch ab! Die Sim- plicität, die wir in den wirklichen Dingen anzutreffen mei- nen, ist nur zu oft bloßer Schein, welcher auf Dunkel- heit, Verwirrung und Einseitigkeit unsrer Jdeen beruhet, eine wahre Einfalt aus Unwissenheit ist, und sich ver- lieret, wenn die Beobachtung die Gegenstände uns nä- her bringet und unsere Begriffe lichter, vollständiger und vielseitiger macht.
Anstatt mich dabey aufzuhalten, worinne es andere versehen haben mögen, will ich ihnen eingestehen, daß sie meistens alle den richtigen Weg, nehmlich den Weg der Beobachtung und der Auflösung, genommen haben; aber ich muß es auch zugleich gestehen, daß ich der Mü- he ungeachtet, die ich mir gegeben habe, ihnen zu fol- gen, und besonders dem Gang der scharfen und tiefen Untersuchung des Hrn. Bonnet und unsers Wolfs nach- zukommen, dennoch bey ihrem Verfahren nicht so be- friediget worden sey, daß ich es nicht für nöthig gehalten hätte, nochmals die ganze Nachforschung für mich selbst zu wiederholen. Jhre Fehltritte sind ihnen von andern schon vorgehalten worden, und nicht ohne einen guten Erfolg; denn bis jetzo ist es in der Philosophie noch leich- ter, einzureißen und umzustoßen, als aufzubauen und zu bessern.
Es darf kaum erinnert werden, daß es, um die Grundkraft in der Seele zu entdecken, nicht genug sey, alle ihre Veränderungen zusammen mit einem gemein- schaftlichen Namen zu belegen, jedwede Aeußerung et- wa ein Empfinden, oder ein Vorstellen zu nennen, und dann aus einer einfachen Empfindungs- oder Vor- stellungs-Kraft sie wiederum alle abzuleiten. Eben so wenig ist es genug, ein gewisses gemeinschaftliches Merk- mal von allen ihren unterschiedenen Arten abzusondern,
und
A 3
der Vorſtellungen.
ſie iſt es nicht in ihrem Umfang, wo ſie ſich mit unend- licher Abwechſelung und Mannigfaltigkeit zeiget. Wie weit ſtehen wir von jenem Jnnern noch ab! Die Sim- plicitaͤt, die wir in den wirklichen Dingen anzutreffen mei- nen, iſt nur zu oft bloßer Schein, welcher auf Dunkel- heit, Verwirrung und Einſeitigkeit unſrer Jdeen beruhet, eine wahre Einfalt aus Unwiſſenheit iſt, und ſich ver- lieret, wenn die Beobachtung die Gegenſtaͤnde uns naͤ- her bringet und unſere Begriffe lichter, vollſtaͤndiger und vielſeitiger macht.
Anſtatt mich dabey aufzuhalten, worinne es andere verſehen haben moͤgen, will ich ihnen eingeſtehen, daß ſie meiſtens alle den richtigen Weg, nehmlich den Weg der Beobachtung und der Aufloͤſung, genommen haben; aber ich muß es auch zugleich geſtehen, daß ich der Muͤ- he ungeachtet, die ich mir gegeben habe, ihnen zu fol- gen, und beſonders dem Gang der ſcharfen und tiefen Unterſuchung des Hrn. Bonnet und unſers Wolfs nach- zukommen, dennoch bey ihrem Verfahren nicht ſo be- friediget worden ſey, daß ich es nicht fuͤr noͤthig gehalten haͤtte, nochmals die ganze Nachforſchung fuͤr mich ſelbſt zu wiederholen. Jhre Fehltritte ſind ihnen von andern ſchon vorgehalten worden, und nicht ohne einen guten Erfolg; denn bis jetzo iſt es in der Philoſophie noch leich- ter, einzureißen und umzuſtoßen, als aufzubauen und zu beſſern.
Es darf kaum erinnert werden, daß es, um die Grundkraft in der Seele zu entdecken, nicht genug ſey, alle ihre Veraͤnderungen zuſammen mit einem gemein- ſchaftlichen Namen zu belegen, jedwede Aeußerung et- wa ein Empfinden, oder ein Vorſtellen zu nennen, und dann aus einer einfachen Empfindungs- oder Vor- ſtellungs-Kraft ſie wiederum alle abzuleiten. Eben ſo wenig iſt es genug, ein gewiſſes gemeinſchaftliches Merk- mal von allen ihren unterſchiedenen Arten abzuſondern,
und
A 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0065"n="5"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der Vorſtellungen.</hi></fw><lb/>ſie iſt es nicht in ihrem Umfang, wo ſie ſich mit unend-<lb/>
licher Abwechſelung und Mannigfaltigkeit zeiget. Wie<lb/>
weit ſtehen wir von jenem Jnnern noch ab! Die Sim-<lb/>
plicitaͤt, die wir in den wirklichen Dingen anzutreffen mei-<lb/>
nen, iſt nur zu oft bloßer Schein, welcher auf Dunkel-<lb/>
heit, Verwirrung und Einſeitigkeit unſrer Jdeen beruhet,<lb/>
eine wahre Einfalt aus Unwiſſenheit iſt, und ſich ver-<lb/>
lieret, wenn die Beobachtung die Gegenſtaͤnde uns naͤ-<lb/>
her bringet und unſere Begriffe lichter, vollſtaͤndiger und<lb/>
vielſeitiger macht.</p><lb/><p>Anſtatt mich dabey aufzuhalten, worinne es andere<lb/>
verſehen haben moͤgen, will ich ihnen eingeſtehen, daß<lb/>ſie meiſtens alle den richtigen Weg, nehmlich den Weg<lb/>
der Beobachtung und der Aufloͤſung, genommen haben;<lb/>
aber ich muß es auch zugleich geſtehen, daß ich der Muͤ-<lb/>
he ungeachtet, die ich mir gegeben habe, ihnen zu fol-<lb/>
gen, und beſonders dem Gang der ſcharfen und tiefen<lb/>
Unterſuchung des Hrn. <hirendition="#fr">Bonnet</hi> und unſers <hirendition="#fr">Wolfs</hi> nach-<lb/>
zukommen, dennoch bey ihrem Verfahren nicht ſo be-<lb/>
friediget worden ſey, daß ich es nicht fuͤr noͤthig gehalten<lb/>
haͤtte, nochmals die ganze Nachforſchung fuͤr mich ſelbſt<lb/>
zu wiederholen. Jhre Fehltritte ſind ihnen von andern<lb/>ſchon vorgehalten worden, und nicht ohne einen guten<lb/>
Erfolg; denn bis jetzo iſt es in der Philoſophie noch leich-<lb/>
ter, einzureißen und umzuſtoßen, als aufzubauen und zu<lb/>
beſſern.</p><lb/><p>Es darf kaum erinnert werden, daß es, um die<lb/>
Grundkraft in der Seele zu entdecken, nicht genug ſey,<lb/>
alle ihre Veraͤnderungen zuſammen mit einem gemein-<lb/>ſchaftlichen Namen zu belegen, jedwede Aeußerung et-<lb/>
wa ein <hirendition="#fr">Empfinden,</hi> oder ein <hirendition="#fr">Vorſtellen</hi> zu nennen,<lb/>
und dann aus einer einfachen Empfindungs- oder Vor-<lb/>ſtellungs-Kraft ſie wiederum alle abzuleiten. Eben ſo<lb/>
wenig iſt es genug, ein gewiſſes gemeinſchaftliches Merk-<lb/>
mal von allen ihren unterſchiedenen Arten abzuſondern,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[5/0065]
der Vorſtellungen.
ſie iſt es nicht in ihrem Umfang, wo ſie ſich mit unend-
licher Abwechſelung und Mannigfaltigkeit zeiget. Wie
weit ſtehen wir von jenem Jnnern noch ab! Die Sim-
plicitaͤt, die wir in den wirklichen Dingen anzutreffen mei-
nen, iſt nur zu oft bloßer Schein, welcher auf Dunkel-
heit, Verwirrung und Einſeitigkeit unſrer Jdeen beruhet,
eine wahre Einfalt aus Unwiſſenheit iſt, und ſich ver-
lieret, wenn die Beobachtung die Gegenſtaͤnde uns naͤ-
her bringet und unſere Begriffe lichter, vollſtaͤndiger und
vielſeitiger macht.
Anſtatt mich dabey aufzuhalten, worinne es andere
verſehen haben moͤgen, will ich ihnen eingeſtehen, daß
ſie meiſtens alle den richtigen Weg, nehmlich den Weg
der Beobachtung und der Aufloͤſung, genommen haben;
aber ich muß es auch zugleich geſtehen, daß ich der Muͤ-
he ungeachtet, die ich mir gegeben habe, ihnen zu fol-
gen, und beſonders dem Gang der ſcharfen und tiefen
Unterſuchung des Hrn. Bonnet und unſers Wolfs nach-
zukommen, dennoch bey ihrem Verfahren nicht ſo be-
friediget worden ſey, daß ich es nicht fuͤr noͤthig gehalten
haͤtte, nochmals die ganze Nachforſchung fuͤr mich ſelbſt
zu wiederholen. Jhre Fehltritte ſind ihnen von andern
ſchon vorgehalten worden, und nicht ohne einen guten
Erfolg; denn bis jetzo iſt es in der Philoſophie noch leich-
ter, einzureißen und umzuſtoßen, als aufzubauen und zu
beſſern.
Es darf kaum erinnert werden, daß es, um die
Grundkraft in der Seele zu entdecken, nicht genug ſey,
alle ihre Veraͤnderungen zuſammen mit einem gemein-
ſchaftlichen Namen zu belegen, jedwede Aeußerung et-
wa ein Empfinden, oder ein Vorſtellen zu nennen,
und dann aus einer einfachen Empfindungs- oder Vor-
ſtellungs-Kraft ſie wiederum alle abzuleiten. Eben ſo
wenig iſt es genug, ein gewiſſes gemeinſchaftliches Merk-
mal von allen ihren unterſchiedenen Arten abzuſondern,
und
A 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/65>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.