Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.VII. Versuch. Von der Nothwendigkeit ihn ein anderer nicht findet; ferner, daß eben derselbigeanfangs eine Ungereimtheit in seinen eigenen Gedanken nicht findet, die er nachher entdecket, und umgekehrt, daß etwas ihm anfangs ungedenkbar zu seyn scheinet, was bey einer sorgfältigern Untersuchung nicht so, oder wohl gar ganz begreiflich ihm vorkommt. Ohne allen Zweifel giebt es blos subjektivische Widersprüche. Wenn davon die Rede wäre, wie dieß zugehe, da doch unser Verstand seiner Natur nach nichts widersprechendes den- ken kann; so möchte die angeführte Erklärung des Hr. Lossius etwan angewendet werden können. An sich sehe ich sonsten darinn keine Erklärung unserer Denk- arten, wenn nur blos statt der Wörter, Vorstellun- gen, Gedanken, Seele, Einbildungskraft, die Wörter, Fibernschwingungen, Fibernsystem, und Wirkungen auf das Fibernsystem und so ferner ge- brauchet werden. Wir haben von den letztern nicht bes- sere Jdeen als von den gewöhnlichen. Aber wenn da- durch eine Art und Weise angegeben werden soll, wie widersprechende Dinge vorgestellet werden könnten, in dem Sinn nemlich, wie es unser menschlicher Verstand durchaus nicht kann, so gestehe ich, dieß sey mir das Unbegreiflichste. Widersprechende Jdeen, als zirkel- rund und eckigt in einer und derselbigen Figur sind dar- um eben widersprechend, weil das Daseyn der Einen die Gegenwart der andern ausschließt, und das Nicht- daseyn der letztern in sich enthält. Nirgends sind son- sten blos verschiedene Dinge unvereinbar, als da, wo eins von dem andern prädiciret werden soll, das ist, wo etwas das seyn soll, was es doch nicht ist. Eine Fiber für eine Seele, welche Widersprüche denken kann, müßte so eingerichtet seyn, daß sie zugleich auf eine ge- wisse Art schwingen und auch nicht auf diese Art schwin- gen könnte. Denn daß sie zugleich mehrere unterschie- dene Schwingungen haben könnte, geht ja so wohl bey Seelen-
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit ihn ein anderer nicht findet; ferner, daß eben derſelbigeanfangs eine Ungereimtheit in ſeinen eigenen Gedanken nicht findet, die er nachher entdecket, und umgekehrt, daß etwas ihm anfangs ungedenkbar zu ſeyn ſcheinet, was bey einer ſorgfaͤltigern Unterſuchung nicht ſo, oder wohl gar ganz begreiflich ihm vorkommt. Ohne allen Zweifel giebt es blos ſubjektiviſche Widerſpruͤche. Wenn davon die Rede waͤre, wie dieß zugehe, da doch unſer Verſtand ſeiner Natur nach nichts widerſprechendes den- ken kann; ſo moͤchte die angefuͤhrte Erklaͤrung des Hr. Loſſius etwan angewendet werden koͤnnen. An ſich ſehe ich ſonſten darinn keine Erklaͤrung unſerer Denk- arten, wenn nur blos ſtatt der Woͤrter, Vorſtellun- gen, Gedanken, Seele, Einbildungskraft, die Woͤrter, Fibernſchwingungen, Fibernſyſtem, und Wirkungen auf das Fibernſyſtem und ſo ferner ge- brauchet werden. Wir haben von den letztern nicht beſ- ſere Jdeen als von den gewoͤhnlichen. Aber wenn da- durch eine Art und Weiſe angegeben werden ſoll, wie widerſprechende Dinge vorgeſtellet werden koͤnnten, in dem Sinn nemlich, wie es unſer menſchlicher Verſtand durchaus nicht kann, ſo geſtehe ich, dieß ſey mir das Unbegreiflichſte. Widerſprechende Jdeen, als zirkel- rund und eckigt in einer und derſelbigen Figur ſind dar- um eben widerſprechend, weil das Daſeyn der Einen die Gegenwart der andern ausſchließt, und das Nicht- daſeyn der letztern in ſich enthaͤlt. Nirgends ſind ſon- ſten blos verſchiedene Dinge unvereinbar, als da, wo eins von dem andern praͤdiciret werden ſoll, das iſt, wo etwas das ſeyn ſoll, was es doch nicht iſt. Eine Fiber fuͤr eine Seele, welche Widerſpruͤche denken kann, muͤßte ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie zugleich auf eine ge- wiſſe Art ſchwingen und auch nicht auf dieſe Art ſchwin- gen koͤnnte. Denn daß ſie zugleich mehrere unterſchie- dene Schwingungen haben koͤnnte, geht ja ſo wohl bey Seelen-
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
ihn ein anderer nicht findet; ferner, daß eben derſelbige
anfangs eine Ungereimtheit in ſeinen eigenen Gedanken
nicht findet, die er nachher entdecket, und umgekehrt,
daß etwas ihm anfangs ungedenkbar zu ſeyn ſcheinet,
was bey einer ſorgfaͤltigern Unterſuchung nicht ſo, oder
wohl gar ganz begreiflich ihm vorkommt. Ohne allen
Zweifel giebt es blos ſubjektiviſche Widerſpruͤche. Wenn
davon die Rede waͤre, wie dieß zugehe, da doch unſer
Verſtand ſeiner Natur nach nichts widerſprechendes den-
ken kann; ſo moͤchte die angefuͤhrte Erklaͤrung des
Hr. Loſſius etwan angewendet werden koͤnnen. An
ſich ſehe ich ſonſten darinn keine Erklaͤrung unſerer Denk-
arten, wenn nur blos ſtatt der Woͤrter, Vorſtellun-
gen, Gedanken, Seele, Einbildungskraft, die
Woͤrter, Fibernſchwingungen, Fibernſyſtem, und
Wirkungen auf das Fibernſyſtem und ſo ferner ge-
brauchet werden. Wir haben von den letztern nicht beſ-
ſere Jdeen als von den gewoͤhnlichen. Aber wenn da-
durch eine Art und Weiſe angegeben werden ſoll, wie
widerſprechende Dinge vorgeſtellet werden koͤnnten, in
dem Sinn nemlich, wie es unſer menſchlicher Verſtand
durchaus nicht kann, ſo geſtehe ich, dieß ſey mir das
Unbegreiflichſte. Widerſprechende Jdeen, als zirkel-
rund und eckigt in einer und derſelbigen Figur ſind dar-
um eben widerſprechend, weil das Daſeyn der Einen
die Gegenwart der andern ausſchließt, und das Nicht-
daſeyn der letztern in ſich enthaͤlt. Nirgends ſind ſon-
ſten blos verſchiedene Dinge unvereinbar, als da, wo
eins von dem andern praͤdiciret werden ſoll, das iſt, wo
etwas das ſeyn ſoll, was es doch nicht iſt. Eine Fiber
fuͤr eine Seele, welche Widerſpruͤche denken kann,
muͤßte ſo eingerichtet ſeyn, daß ſie zugleich auf eine ge-
wiſſe Art ſchwingen und auch nicht auf dieſe Art ſchwin-
gen koͤnnte. Denn daß ſie zugleich mehrere unterſchie-
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