Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
dieß außer Zweifel; denn Aehnlichkeit und Verschieden-
heit ist nur ein Gedanke in dem Verstande. Jn Hin-
sicht der Beziehungen aus der Art der Koexistenz der
Dinge und der ursachlichen Verknüpfung ist es so offen-
bar nicht. Aber zugegeben, daß es so sey, so würde
nur folgen, daß alle Gedanken und also auch alle Wahr-
heiten in so weit etwas subjektivisches sind, als nur eine
Denkkraft ihrer empfänglich ist. Hievon, glaube ich, sey
gar nicht die Rede.

Es ließe sich noch dieß sagen. Die Verhältnisse,
welche unser Verstand in den Dingen gewahrnimmt,
mögen vielleicht selbst andere Verhältnißarten seyn, als
diejenigen, welche eine andere Denkkraft fasset. Aehn-
lichkeit und Verschiedenheit, beyeinander seyn, und von
einander abhangen, das sind Denkarten unsers Verstan-
des. Sind es auch Denkarten eines jedweden andern
Verstandes? Also ist es unmöglich auszumachen, ob un-
sere Denkarten über die Gegenstände, auch die Denkar-
ten eines Engels oder gar des göttlichen Verstandes
sind? Also sind auch die Verhältnisse, die wir in unsern
Jmpressionen gewahrnehmen, schlechthin nur Gedanken
vor uns, und nur Wahrheiten vor uns.

Hierauf kann man antworten. Es werde das erste
Ziel verlassen, und ein anders gesteckt. Wir haben kei-
nen Begrif von einem Verstande, der nicht solche Ver-
hältnisse in den Jdeen gewahrnimmt, als wir gewahr-
nehmen. Giebt es also eine Denkkraft, die so sehr hete-
rogen ist von der unsrigen, daß die Verhältnisse und Be-
ziehungen, welche sie hervorbringet, mit den unsrigen un-
vergleichbar sind, so ist das etwas, das vielleicht als ein
Analogon eines Verstandes, oder wenn es eine größere
Vortreflichkeit ist, als unsere Denkkraft, als ein Ver-
stand per eminentiam angesehen werden kann; aber ein
eigentlicher Verstand und eine Denkkraft, davon wir ei-
nen Begrif haben, ist es nicht. Und solche eigentliche

Denk-

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
dieß außer Zweifel; denn Aehnlichkeit und Verſchieden-
heit iſt nur ein Gedanke in dem Verſtande. Jn Hin-
ſicht der Beziehungen aus der Art der Koexiſtenz der
Dinge und der urſachlichen Verknuͤpfung iſt es ſo offen-
bar nicht. Aber zugegeben, daß es ſo ſey, ſo wuͤrde
nur folgen, daß alle Gedanken und alſo auch alle Wahr-
heiten in ſo weit etwas ſubjektiviſches ſind, als nur eine
Denkkraft ihrer empfaͤnglich iſt. Hievon, glaube ich, ſey
gar nicht die Rede.

Es ließe ſich noch dieß ſagen. Die Verhaͤltniſſe,
welche unſer Verſtand in den Dingen gewahrnimmt,
moͤgen vielleicht ſelbſt andere Verhaͤltnißarten ſeyn, als
diejenigen, welche eine andere Denkkraft faſſet. Aehn-
lichkeit und Verſchiedenheit, beyeinander ſeyn, und von
einander abhangen, das ſind Denkarten unſers Verſtan-
des. Sind es auch Denkarten eines jedweden andern
Verſtandes? Alſo iſt es unmoͤglich auszumachen, ob un-
ſere Denkarten uͤber die Gegenſtaͤnde, auch die Denkar-
ten eines Engels oder gar des goͤttlichen Verſtandes
ſind? Alſo ſind auch die Verhaͤltniſſe, die wir in unſern
Jmpreſſionen gewahrnehmen, ſchlechthin nur Gedanken
vor uns, und nur Wahrheiten vor uns.

Hierauf kann man antworten. Es werde das erſte
Ziel verlaſſen, und ein anders geſteckt. Wir haben kei-
nen Begrif von einem Verſtande, der nicht ſolche Ver-
haͤltniſſe in den Jdeen gewahrnimmt, als wir gewahr-
nehmen. Giebt es alſo eine Denkkraft, die ſo ſehr hete-
rogen iſt von der unſrigen, daß die Verhaͤltniſſe und Be-
ziehungen, welche ſie hervorbringet, mit den unſrigen un-
vergleichbar ſind, ſo iſt das etwas, das vielleicht als ein
Analogon eines Verſtandes, oder wenn es eine groͤßere
Vortreflichkeit iſt, als unſere Denkkraft, als ein Ver-
ſtand per eminentiam angeſehen werden kann; aber ein
eigentlicher Verſtand und eine Denkkraft, davon wir ei-
nen Begrif haben, iſt es nicht. Und ſolche eigentliche

Denk-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0599" n="539"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
dieß außer Zweifel; denn Aehnlichkeit und Ver&#x017F;chieden-<lb/>
heit i&#x017F;t nur ein Gedanke in dem Ver&#x017F;tande. Jn Hin-<lb/>
&#x017F;icht der Beziehungen aus der Art der Koexi&#x017F;tenz der<lb/>
Dinge und der ur&#x017F;achlichen Verknu&#x0364;pfung i&#x017F;t es &#x017F;o offen-<lb/>
bar nicht. Aber zugegeben, daß es &#x017F;o &#x017F;ey, &#x017F;o wu&#x0364;rde<lb/>
nur folgen, daß alle Gedanken und al&#x017F;o auch alle Wahr-<lb/>
heiten in &#x017F;o weit etwas &#x017F;ubjektivi&#x017F;ches &#x017F;ind, als nur eine<lb/>
Denkkraft ihrer empfa&#x0364;nglich i&#x017F;t. Hievon, glaube ich, &#x017F;ey<lb/>
gar nicht die Rede.</p><lb/>
            <p>Es ließe &#x017F;ich noch dieß &#x017F;agen. Die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
welche un&#x017F;er Ver&#x017F;tand in den Dingen gewahrnimmt,<lb/>
mo&#x0364;gen vielleicht &#x017F;elb&#x017F;t andere Verha&#x0364;ltnißarten &#x017F;eyn, als<lb/>
diejenigen, welche eine andere Denkkraft fa&#x017F;&#x017F;et. Aehn-<lb/>
lichkeit und Ver&#x017F;chiedenheit, beyeinander &#x017F;eyn, und von<lb/>
einander abhangen, das &#x017F;ind Denkarten un&#x017F;ers Ver&#x017F;tan-<lb/>
des. Sind es auch Denkarten eines jedweden andern<lb/>
Ver&#x017F;tandes? Al&#x017F;o i&#x017F;t es unmo&#x0364;glich auszumachen, ob un-<lb/>
&#x017F;ere Denkarten u&#x0364;ber die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, auch die Denkar-<lb/>
ten eines Engels oder gar des go&#x0364;ttlichen Ver&#x017F;tandes<lb/>
&#x017F;ind? Al&#x017F;o &#x017F;ind auch die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, die wir in un&#x017F;ern<lb/>
Jmpre&#x017F;&#x017F;ionen gewahrnehmen, &#x017F;chlechthin nur Gedanken<lb/>
vor uns, und nur Wahrheiten vor uns.</p><lb/>
            <p>Hierauf kann man antworten. Es werde das er&#x017F;te<lb/>
Ziel verla&#x017F;&#x017F;en, und ein anders ge&#x017F;teckt. Wir haben kei-<lb/>
nen Begrif von einem Ver&#x017F;tande, der nicht &#x017F;olche Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e in den Jdeen gewahrnimmt, als wir gewahr-<lb/>
nehmen. Giebt es al&#x017F;o eine Denkkraft, die &#x017F;o &#x017F;ehr hete-<lb/>
rogen i&#x017F;t von der un&#x017F;rigen, daß die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Be-<lb/>
ziehungen, welche &#x017F;ie hervorbringet, mit den un&#x017F;rigen un-<lb/>
vergleichbar &#x017F;ind, &#x017F;o i&#x017F;t das etwas, das vielleicht als ein<lb/>
Analogon eines Ver&#x017F;tandes, oder wenn es eine gro&#x0364;ßere<lb/>
Vortreflichkeit i&#x017F;t, als un&#x017F;ere Denkkraft, als ein Ver-<lb/>
&#x017F;tand <hi rendition="#aq">per eminentiam</hi> ange&#x017F;ehen werden kann; aber ein<lb/>
eigentlicher Ver&#x017F;tand und eine Denkkraft, davon wir ei-<lb/>
nen Begrif haben, i&#x017F;t es nicht. Und &#x017F;olche eigentliche<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Denk-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[539/0599] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. dieß außer Zweifel; denn Aehnlichkeit und Verſchieden- heit iſt nur ein Gedanke in dem Verſtande. Jn Hin- ſicht der Beziehungen aus der Art der Koexiſtenz der Dinge und der urſachlichen Verknuͤpfung iſt es ſo offen- bar nicht. Aber zugegeben, daß es ſo ſey, ſo wuͤrde nur folgen, daß alle Gedanken und alſo auch alle Wahr- heiten in ſo weit etwas ſubjektiviſches ſind, als nur eine Denkkraft ihrer empfaͤnglich iſt. Hievon, glaube ich, ſey gar nicht die Rede. Es ließe ſich noch dieß ſagen. Die Verhaͤltniſſe, welche unſer Verſtand in den Dingen gewahrnimmt, moͤgen vielleicht ſelbſt andere Verhaͤltnißarten ſeyn, als diejenigen, welche eine andere Denkkraft faſſet. Aehn- lichkeit und Verſchiedenheit, beyeinander ſeyn, und von einander abhangen, das ſind Denkarten unſers Verſtan- des. Sind es auch Denkarten eines jedweden andern Verſtandes? Alſo iſt es unmoͤglich auszumachen, ob un- ſere Denkarten uͤber die Gegenſtaͤnde, auch die Denkar- ten eines Engels oder gar des goͤttlichen Verſtandes ſind? Alſo ſind auch die Verhaͤltniſſe, die wir in unſern Jmpreſſionen gewahrnehmen, ſchlechthin nur Gedanken vor uns, und nur Wahrheiten vor uns. Hierauf kann man antworten. Es werde das erſte Ziel verlaſſen, und ein anders geſteckt. Wir haben kei- nen Begrif von einem Verſtande, der nicht ſolche Ver- haͤltniſſe in den Jdeen gewahrnimmt, als wir gewahr- nehmen. Giebt es alſo eine Denkkraft, die ſo ſehr hete- rogen iſt von der unſrigen, daß die Verhaͤltniſſe und Be- ziehungen, welche ſie hervorbringet, mit den unſrigen un- vergleichbar ſind, ſo iſt das etwas, das vielleicht als ein Analogon eines Verſtandes, oder wenn es eine groͤßere Vortreflichkeit iſt, als unſere Denkkraft, als ein Ver- ſtand per eminentiam angeſehen werden kann; aber ein eigentlicher Verſtand und eine Denkkraft, davon wir ei- nen Begrif haben, iſt es nicht. Und ſolche eigentliche Denk-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/599
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/599>, abgerufen am 24.11.2024.