werden mußten. So bringet der Jnstinkt es mit sich. Es ist dieß eine Wirkung des gemeinen Menschenver- standes, und die alte Metaphysik hat in diesem Verfah- ren etwas richtiges erkannt, und zum Axiom angenom- men, daß die Wahrheit etwas objektivisches sey.
Jn Hinsicht der Schönheit hat man es schon län- ger und mit mehrerm Fleiß untersuchet, ob sie nur et- was relatives vor uns, oder auch etwas absolutes in den schönen Gegenständen für sich sey? Die Sache hatte zwo verschiedene Seiten. Von der Einen sie betrachtet, konnte und mußte man sagen, die Sachen, die häßlich und schön sind, haben diese Beschaffenheiten nur vor diejenigen, die sie also empfinden; von der andern Seite ließ sich auch das Gegentheil behaupten; aber da jene die fruchtbarste und gewöhnliche ist, von der sie fast von allen angesehen wird, die aus Beobachtungen über sie raisonniren, so gewann der allgemeine Ausspruch: "daß die Schönheit nur relativer Natur sey," die Oberhand. Und nun verglich man Wahrheit mit der Schönheit, und glaubte die Parallel zwischen beiden gehe so weit, daß man auch von der Wahrheit sagen könne: "sie sey durchaus nichts anders als nur eine Relation vor den der sie denket." Ein Satz, den ein neuerer Philosoph bis zu seinem völligsten Umfang ausgedehnet, und in diesem Umfang zu beweisen gesucht hat. *) So gar soll es nicht unmöglich seyn, daß es denkende Wesen gebe, die sich auch dasjenige vorstellen können, was für uns etwas Widersprechendes ist. Dieß letztere ist der härteste Angriff, den die Skepsis auf die Menschen- vernunft thun kann. Jndessen sind die Gründe, ich will nicht sagen, diejenigen, worauf sich der gedachte Zusatz stützet, aber doch die übrigen, die zu dem Satz hinführen, daß die Wahrheit nur eine Relation sey für
den,
*)Lossius Physische Ursachen des Wahren.
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
werden mußten. So bringet der Jnſtinkt es mit ſich. Es iſt dieß eine Wirkung des gemeinen Menſchenver- ſtandes, und die alte Metaphyſik hat in dieſem Verfah- ren etwas richtiges erkannt, und zum Axiom angenom- men, daß die Wahrheit etwas objektiviſches ſey.
Jn Hinſicht der Schoͤnheit hat man es ſchon laͤn- ger und mit mehrerm Fleiß unterſuchet, ob ſie nur et- was relatives vor uns, oder auch etwas abſolutes in den ſchoͤnen Gegenſtaͤnden fuͤr ſich ſey? Die Sache hatte zwo verſchiedene Seiten. Von der Einen ſie betrachtet, konnte und mußte man ſagen, die Sachen, die haͤßlich und ſchoͤn ſind, haben dieſe Beſchaffenheiten nur vor diejenigen, die ſie alſo empfinden; von der andern Seite ließ ſich auch das Gegentheil behaupten; aber da jene die fruchtbarſte und gewoͤhnliche iſt, von der ſie faſt von allen angeſehen wird, die aus Beobachtungen uͤber ſie raiſonniren, ſo gewann der allgemeine Ausſpruch: „daß die Schoͤnheit nur relativer Natur ſey,‟ die Oberhand. Und nun verglich man Wahrheit mit der Schoͤnheit, und glaubte die Parallel zwiſchen beiden gehe ſo weit, daß man auch von der Wahrheit ſagen koͤnne: „ſie ſey durchaus nichts anders als nur eine Relation vor den der ſie denket.‟ Ein Satz, den ein neuerer Philoſoph bis zu ſeinem voͤlligſten Umfang ausgedehnet, und in dieſem Umfang zu beweiſen geſucht hat. *) So gar ſoll es nicht unmoͤglich ſeyn, daß es denkende Weſen gebe, die ſich auch dasjenige vorſtellen koͤnnen, was fuͤr uns etwas Widerſprechendes iſt. Dieß letztere iſt der haͤrteſte Angriff, den die Skepſis auf die Menſchen- vernunft thun kann. Jndeſſen ſind die Gruͤnde, ich will nicht ſagen, diejenigen, worauf ſich der gedachte Zuſatz ſtuͤtzet, aber doch die uͤbrigen, die zu dem Satz hinfuͤhren, daß die Wahrheit nur eine Relation ſey fuͤr
den,
*)Loſſius Phyſiſche Urſachen des Wahren.
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
werden mußten. So bringet der Jnſtinkt es mit ſich.
Es iſt dieß eine Wirkung des gemeinen Menſchenver-
ſtandes, und die alte Metaphyſik hat in dieſem Verfah-
ren etwas richtiges erkannt, und zum Axiom angenom-
men, daß die Wahrheit etwas objektiviſches ſey.
Jn Hinſicht der Schoͤnheit hat man es ſchon laͤn-
ger und mit mehrerm Fleiß unterſuchet, ob ſie nur et-
was relatives vor uns, oder auch etwas abſolutes in
den ſchoͤnen Gegenſtaͤnden fuͤr ſich ſey? Die Sache hatte
zwo verſchiedene Seiten. Von der Einen ſie betrachtet,
konnte und mußte man ſagen, die Sachen, die haͤßlich
und ſchoͤn ſind, haben dieſe Beſchaffenheiten nur vor
diejenigen, die ſie alſo empfinden; von der andern Seite
ließ ſich auch das Gegentheil behaupten; aber da jene
die fruchtbarſte und gewoͤhnliche iſt, von der ſie faſt von
allen angeſehen wird, die aus Beobachtungen uͤber ſie
raiſonniren, ſo gewann der allgemeine Ausſpruch: „daß
die Schoͤnheit nur relativer Natur ſey,‟ die Oberhand.
Und nun verglich man Wahrheit mit der Schoͤnheit, und
glaubte die Parallel zwiſchen beiden gehe ſo weit, daß
man auch von der Wahrheit ſagen koͤnne: „ſie ſey
durchaus nichts anders als nur eine Relation vor
den der ſie denket.‟ Ein Satz, den ein neuerer
Philoſoph bis zu ſeinem voͤlligſten Umfang ausgedehnet,
und in dieſem Umfang zu beweiſen geſucht hat. *) So
gar ſoll es nicht unmoͤglich ſeyn, daß es denkende Weſen
gebe, die ſich auch dasjenige vorſtellen koͤnnen, was fuͤr
uns etwas Widerſprechendes iſt. Dieß letztere iſt
der haͤrteſte Angriff, den die Skepſis auf die Menſchen-
vernunft thun kann. Jndeſſen ſind die Gruͤnde, ich
will nicht ſagen, diejenigen, worauf ſich der gedachte
Zuſatz ſtuͤtzet, aber doch die uͤbrigen, die zu dem Satz
hinfuͤhren, daß die Wahrheit nur eine Relation ſey fuͤr
den,
*) Loſſius Phyſiſche Urſachen des Wahren.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/592>, abgerufen am 24.11.2024.
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