Skeptiker sie nicht für ein untrügliches Kennzeichen der Wahrheit anerkennen will, so beruft er sich auf Jrrthü- mer, die wir jetzo dafür erkennen, und die doch zu Ei- ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden sind. Davon giebt es noch mehrere Beyspiele, als die bekannte sinnliche Vorstellung von der Bewegung der Sonne um die Erde.
Woher eine gewisse Gleichheit aller Menschen in Hinsicht ihrer entwickelten Denkkräfte entstehen könne, und eine allgemeine Uebereinstimmung in gewissen Mei- nungen und Urtheilen, das ist, bey aller ihrer sonstigen Verschiedenheit, aus ihrer ähnlichen Naturanlage, und der dadurch bestimmten nothwendig ähnlichen Wirkungs- arten, aus der Aehnlichkeit der äußeren Sinne und der ersten Empfindungen und Vorstellungen, wie auch der Gelegenheiten, Reizungen und Gegenstände für die Ver- mögen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegründet ist, in der alle Menschenkinder auf die äußere wirkliche Welt sich befinden, sehr leicht zu begreifen. Aber es ist nicht leicht, und vielleicht unmöglich, die Grenze genau zu be- stimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al- len Jndividuen, in Hinsicht der Größe der Vermögen, und die davon abhangende Uebereinstimmung in den Meinungen sich erstrecke? Es gehört doch wahrlich nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald für Erkenntnisse des Menschenverstandes ausgegeben hat, und doch auch selbst nicht zu den allgemeinen Menschenverstand hinrechnet. Daher können Fälle genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entscheiden ist, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menschen er- kannt sey, oder nicht? Man hat insbesondere diese Frage bey der Lehre von dem Daseyn eines Gottes un- tersuchet, aber weder die bejahende noch die verneinende Antwort bisher völlig zur Evidenz gebracht.
Ein
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Skeptiker ſie nicht fuͤr ein untruͤgliches Kennzeichen der Wahrheit anerkennen will, ſo beruft er ſich auf Jrrthuͤ- mer, die wir jetzo dafuͤr erkennen, und die doch zu Ei- ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden ſind. Davon giebt es noch mehrere Beyſpiele, als die bekannte ſinnliche Vorſtellung von der Bewegung der Sonne um die Erde.
Woher eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in Hinſicht ihrer entwickelten Denkkraͤfte entſtehen koͤnne, und eine allgemeine Uebereinſtimmung in gewiſſen Mei- nungen und Urtheilen, das iſt, bey aller ihrer ſonſtigen Verſchiedenheit, aus ihrer aͤhnlichen Naturanlage, und der dadurch beſtimmten nothwendig aͤhnlichen Wirkungs- arten, aus der Aehnlichkeit der aͤußeren Sinne und der erſten Empfindungen und Vorſtellungen, wie auch der Gelegenheiten, Reizungen und Gegenſtaͤnde fuͤr die Ver- moͤgen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegruͤndet iſt, in der alle Menſchenkinder auf die aͤußere wirkliche Welt ſich befinden, ſehr leicht zu begreifen. Aber es iſt nicht leicht, und vielleicht unmoͤglich, die Grenze genau zu be- ſtimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al- len Jndividuen, in Hinſicht der Groͤße der Vermoͤgen, und die davon abhangende Uebereinſtimmung in den Meinungen ſich erſtrecke? Es gehoͤrt doch wahrlich nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald fuͤr Erkenntniſſe des Menſchenverſtandes ausgegeben hat, und doch auch ſelbſt nicht zu den allgemeinen Menſchenverſtand hinrechnet. Daher koͤnnen Faͤlle genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entſcheiden iſt, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menſchen er- kannt ſey, oder nicht? Man hat insbeſondere dieſe Frage bey der Lehre von dem Daſeyn eines Gottes un- terſuchet, aber weder die bejahende noch die verneinende Antwort bisher voͤllig zur Evidenz gebracht.
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Skeptiker ſie nicht fuͤr ein untruͤgliches Kennzeichen der
Wahrheit anerkennen will, ſo beruft er ſich auf Jrrthuͤ-
mer, die wir jetzo dafuͤr erkennen, und die doch zu Ei-
ner Zeit allgemein als Wahrheiten geglaubet worden
ſind. Davon giebt es noch mehrere Beyſpiele, als die
bekannte ſinnliche Vorſtellung von der Bewegung der
Sonne um die Erde.
Woher eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in
Hinſicht ihrer entwickelten Denkkraͤfte entſtehen koͤnne,
und eine allgemeine Uebereinſtimmung in gewiſſen Mei-
nungen und Urtheilen, das iſt, bey aller ihrer ſonſtigen
Verſchiedenheit, aus ihrer aͤhnlichen Naturanlage, und
der dadurch beſtimmten nothwendig aͤhnlichen Wirkungs-
arten, aus der Aehnlichkeit der aͤußeren Sinne und der
erſten Empfindungen und Vorſtellungen, wie auch der
Gelegenheiten, Reizungen und Gegenſtaͤnde fuͤr die Ver-
moͤgen, welche letztere wiederum in einer allgemeinen
Aehnlichkeit der Lage und Beziehungen, gegruͤndet iſt,
in der alle Menſchenkinder auf die aͤußere wirkliche Welt
ſich befinden, ſehr leicht zu begreifen. Aber es iſt nicht
leicht, und vielleicht unmoͤglich, die Grenze genau zu be-
ſtimmen, bis wohin die allgemeine Gleichheit bey al-
len Jndividuen, in Hinſicht der Groͤße der Vermoͤgen,
und die davon abhangende Uebereinſtimmung in den
Meinungen ſich erſtrecke? Es gehoͤrt doch wahrlich
nicht zu den gemeinen Meinungen, was Oswald fuͤr
Erkenntniſſe des Menſchenverſtandes ausgegeben
hat, und doch auch ſelbſt nicht zu den allgemeinen
Menſchenverſtand hinrechnet. Daher koͤnnen Faͤlle
genug vorkommen, wo es durchaus nicht zu entſcheiden
iſt, ob etwas als eine Wahrheit von allen Menſchen er-
kannt ſey, oder nicht? Man hat insbeſondere dieſe
Frage bey der Lehre von dem Daſeyn eines Gottes un-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/584>, abgerufen am 21.11.2024.
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