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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
Ende auf solche Fälle, als ich vorher angeführet habe,
wo entstandene Dinge ohne ihre Ursachen empfunden wor-
den sind, zurücksehen, lebhaft sich solche vorstellen und
dadurch den Gedanken von einer Ursache zurückhalten
müsse. Sobald die Aufmerksamkeit von einigen beson-
dern Fällen abgewendet, und ein Ding überhaupt als
Entstanden betrachtet wird, so verräth sich wiederum
die natürliche Neigung des Verstandes. Wenn etwan
die Erinnerung, "daß in vielen Fällen doch keine Ursa-
che gewahrgenommen werde," sich in den Weg leget,
so darf man dieser nur den Gedanken entgegen setzen:
"daß eine Ursache doch wohl daselbst vorhanden gewesen
seyn könne, und in so vielen Fällen wirklich vorhanden
gewesen sey, ob man gleich sie nicht bemerket habe;"
und man wird finden, daß die Reflexion alsdenn ihren
freyen Gang geht, und nothwendig und unaufhaltsam
mit der Jdee von einem entstandenen Dinge den Ge-
danken verbindet, daß es ein verursachtes, oder von
einem andern Dinge hervorgebracht sey.

Die natürliche, die subjektivische Nothwendig-
keit ist also wirklich vorhanden,
und es ist nur die
Frage, worinn sie ihren Grund habe. Einige Philoso-
phen sehen sie für eine Folge der Gewohnheit an. Der
Satz; Nichts ohne Ursache, ist, ihrer Meinung nach,
ein Erfahrungssatz und aus den Empfindungen. Wir
haben zu den entstehenden Dingen, da wo sie unsern
Sinnen vorgekommen sind, besonders in unserm Jnnern,
andere vorhergehende Ursachen gefunden; und daraus
eine Abstraktion von einem Entstehenden Dinge gemacht,
worinn die Beziehung desselben auf eine Ursache schon
enthalten ist. Und diesen Begriff haben wir nachher
auf alle Arten von Veränderungen und Erscheinungen
angewendet, von welchen wir erkannt, daß sie einmal
nicht vorhanden gewesen, sondern geworden sind. Ob
also nun gleich der allgemeine Grundsatz: "Ein entstan-

denes
J i 4

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
Ende auf ſolche Faͤlle, als ich vorher angefuͤhret habe,
wo entſtandene Dinge ohne ihre Urſachen empfunden wor-
den ſind, zuruͤckſehen, lebhaft ſich ſolche vorſtellen und
dadurch den Gedanken von einer Urſache zuruͤckhalten
muͤſſe. Sobald die Aufmerkſamkeit von einigen beſon-
dern Faͤllen abgewendet, und ein Ding uͤberhaupt als
Entſtanden betrachtet wird, ſo verraͤth ſich wiederum
die natuͤrliche Neigung des Verſtandes. Wenn etwan
die Erinnerung, „daß in vielen Faͤllen doch keine Urſa-
che gewahrgenommen werde,‟ ſich in den Weg leget,
ſo darf man dieſer nur den Gedanken entgegen ſetzen:
„daß eine Urſache doch wohl daſelbſt vorhanden geweſen
ſeyn koͤnne, und in ſo vielen Faͤllen wirklich vorhanden
geweſen ſey, ob man gleich ſie nicht bemerket habe;‟
und man wird finden, daß die Reflexion alsdenn ihren
freyen Gang geht, und nothwendig und unaufhaltſam
mit der Jdee von einem entſtandenen Dinge den Ge-
danken verbindet, daß es ein verurſachtes, oder von
einem andern Dinge hervorgebracht ſey.

Die natuͤrliche, die ſubjektiviſche Nothwendig-
keit iſt alſo wirklich vorhanden,
und es iſt nur die
Frage, worinn ſie ihren Grund habe. Einige Philoſo-
phen ſehen ſie fuͤr eine Folge der Gewohnheit an. Der
Satz; Nichts ohne Urſache, iſt, ihrer Meinung nach,
ein Erfahrungsſatz und aus den Empfindungen. Wir
haben zu den entſtehenden Dingen, da wo ſie unſern
Sinnen vorgekommen ſind, beſonders in unſerm Jnnern,
andere vorhergehende Urſachen gefunden; und daraus
eine Abſtraktion von einem Entſtehenden Dinge gemacht,
worinn die Beziehung deſſelben auf eine Urſache ſchon
enthalten iſt. Und dieſen Begriff haben wir nachher
auf alle Arten von Veraͤnderungen und Erſcheinungen
angewendet, von welchen wir erkannt, daß ſie einmal
nicht vorhanden geweſen, ſondern geworden ſind. Ob
alſo nun gleich der allgemeine Grundſatz: „Ein entſtan-

denes
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[503/0563] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. Ende auf ſolche Faͤlle, als ich vorher angefuͤhret habe, wo entſtandene Dinge ohne ihre Urſachen empfunden wor- den ſind, zuruͤckſehen, lebhaft ſich ſolche vorſtellen und dadurch den Gedanken von einer Urſache zuruͤckhalten muͤſſe. Sobald die Aufmerkſamkeit von einigen beſon- dern Faͤllen abgewendet, und ein Ding uͤberhaupt als Entſtanden betrachtet wird, ſo verraͤth ſich wiederum die natuͤrliche Neigung des Verſtandes. Wenn etwan die Erinnerung, „daß in vielen Faͤllen doch keine Urſa- che gewahrgenommen werde,‟ ſich in den Weg leget, ſo darf man dieſer nur den Gedanken entgegen ſetzen: „daß eine Urſache doch wohl daſelbſt vorhanden geweſen ſeyn koͤnne, und in ſo vielen Faͤllen wirklich vorhanden geweſen ſey, ob man gleich ſie nicht bemerket habe;‟ und man wird finden, daß die Reflexion alsdenn ihren freyen Gang geht, und nothwendig und unaufhaltſam mit der Jdee von einem entſtandenen Dinge den Ge- danken verbindet, daß es ein verurſachtes, oder von einem andern Dinge hervorgebracht ſey. Die natuͤrliche, die ſubjektiviſche Nothwendig- keit iſt alſo wirklich vorhanden, und es iſt nur die Frage, worinn ſie ihren Grund habe. Einige Philoſo- phen ſehen ſie fuͤr eine Folge der Gewohnheit an. Der Satz; Nichts ohne Urſache, iſt, ihrer Meinung nach, ein Erfahrungsſatz und aus den Empfindungen. Wir haben zu den entſtehenden Dingen, da wo ſie unſern Sinnen vorgekommen ſind, beſonders in unſerm Jnnern, andere vorhergehende Urſachen gefunden; und daraus eine Abſtraktion von einem Entſtehenden Dinge gemacht, worinn die Beziehung deſſelben auf eine Urſache ſchon enthalten iſt. Und dieſen Begriff haben wir nachher auf alle Arten von Veraͤnderungen und Erſcheinungen angewendet, von welchen wir erkannt, daß ſie einmal nicht vorhanden geweſen, ſondern geworden ſind. Ob alſo nun gleich der allgemeine Grundſatz: „Ein entſtan- denes J i 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/563>, abgerufen am 26.06.2024.