Schlußgedanken nicht umändern. Die Geometrischen Theoreme können eben so wenig von dem Verstande, der ihre Beweise durchdenket, bezweifelt werden, als ihre Axiome. Wenn es geschähe, so müßte es daran liegen, weil man die Demonstrationen nicht ganz durchdenken kann, oder in einige Verwirrung geräth.
Die subjektivische Nothwendigkeit, mit der unsere Reflexion in diesen drey angeführten Fällen so wir- ket, wie sie wirkt, ist von einer unüberwindlichen Stär- ke. Der Hang zum Prüfen und Zweifeln, das geflis- sentlichst muthwilligste Bestreben würde hierinn ein Be- streben gegen seine eigene Natur seyn, und bleibet im- mer unfähig, sie umzuändern. Hier ist die Grenze des Stepticismus, so lange noch vernünftelt wird. Alles, was der hartnäckigste Zweifler über sich vermag, würde dieß seyn, daß er seine Vernunftfähigkeit schwä- chen und sie unvermögend machen könne, so anhaltend wirksam zu seyn, als es nöthig ist, wenn eine Reihe von Schlüssen durchgedacht werden soll. Wenn ihm diese Unterdrückung der Vernunft gelingen könnte, so müßte er freylich dasselbige erfahren, was Personen von schwa- chem Verstande begegnet, die, ob sie gleich mehrmalen eine Rechnung nachgesehen, und richtig befunden haben, sich doch noch wohl durch eine dreiste Behauptung des Gegentheils zweifelhaft machen lassen, ob die Rechnung auch wirklich richtig sey? Aber dahin ist es doch nicht zu bringen, daß in jedem einzelnen Schluß ein anderer Schlußsatz aus den Vordersätzen gezogen werde, als der einzige richtige ist, es sey denn, daß zugleich in den Jdeen oder in den Vordersätzen eine Veränderung vor- gehe. Diese subjektivische Nothwendigkeit in unseren Urtheilen ist eine Nothwendigkeit von dem ersten Rang, eine absolute Nothwendigkeit; aber doch eine so genannte necessitas contrarietatis, eine Nothwendig-
keit,
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
Schlußgedanken nicht umaͤndern. Die Geometriſchen Theoreme koͤnnen eben ſo wenig von dem Verſtande, der ihre Beweiſe durchdenket, bezweifelt werden, als ihre Axiome. Wenn es geſchaͤhe, ſo muͤßte es daran liegen, weil man die Demonſtrationen nicht ganz durchdenken kann, oder in einige Verwirrung geraͤth.
Die ſubjektiviſche Nothwendigkeit, mit der unſere Reflexion in dieſen drey angefuͤhrten Faͤllen ſo wir- ket, wie ſie wirkt, iſt von einer unuͤberwindlichen Staͤr- ke. Der Hang zum Pruͤfen und Zweifeln, das gefliſ- ſentlichſt muthwilligſte Beſtreben wuͤrde hierinn ein Be- ſtreben gegen ſeine eigene Natur ſeyn, und bleibet im- mer unfaͤhig, ſie umzuaͤndern. Hier iſt die Grenze des Stepticismus, ſo lange noch vernuͤnftelt wird. Alles, was der hartnaͤckigſte Zweifler uͤber ſich vermag, wuͤrde dieß ſeyn, daß er ſeine Vernunftfaͤhigkeit ſchwaͤ- chen und ſie unvermoͤgend machen koͤnne, ſo anhaltend wirkſam zu ſeyn, als es noͤthig iſt, wenn eine Reihe von Schluͤſſen durchgedacht werden ſoll. Wenn ihm dieſe Unterdruͤckung der Vernunft gelingen koͤnnte, ſo muͤßte er freylich daſſelbige erfahren, was Perſonen von ſchwa- chem Verſtande begegnet, die, ob ſie gleich mehrmalen eine Rechnung nachgeſehen, und richtig befunden haben, ſich doch noch wohl durch eine dreiſte Behauptung des Gegentheils zweifelhaft machen laſſen, ob die Rechnung auch wirklich richtig ſey? Aber dahin iſt es doch nicht zu bringen, daß in jedem einzelnen Schluß ein anderer Schlußſatz aus den Vorderſaͤtzen gezogen werde, als der einzige richtige iſt, es ſey denn, daß zugleich in den Jdeen oder in den Vorderſaͤtzen eine Veraͤnderung vor- gehe. Dieſe ſubjektiviſche Nothwendigkeit in unſeren Urtheilen iſt eine Nothwendigkeit von dem erſten Rang, eine abſolute Nothwendigkeit; aber doch eine ſo genannte neceſſitas contrarietatis, eine Nothwendig-
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der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
Schlußgedanken nicht umaͤndern. Die Geometriſchen
Theoreme koͤnnen eben ſo wenig von dem Verſtande,
der ihre Beweiſe durchdenket, bezweifelt werden, als ihre
Axiome. Wenn es geſchaͤhe, ſo muͤßte es daran liegen,
weil man die Demonſtrationen nicht ganz durchdenken
kann, oder in einige Verwirrung geraͤth.
Die ſubjektiviſche Nothwendigkeit, mit der
unſere Reflexion in dieſen drey angefuͤhrten Faͤllen ſo wir-
ket, wie ſie wirkt, iſt von einer unuͤberwindlichen Staͤr-
ke. Der Hang zum Pruͤfen und Zweifeln, das gefliſ-
ſentlichſt muthwilligſte Beſtreben wuͤrde hierinn ein Be-
ſtreben gegen ſeine eigene Natur ſeyn, und bleibet im-
mer unfaͤhig, ſie umzuaͤndern. Hier iſt die Grenze
des Stepticismus, ſo lange noch vernuͤnftelt wird.
Alles, was der hartnaͤckigſte Zweifler uͤber ſich vermag,
wuͤrde dieß ſeyn, daß er ſeine Vernunftfaͤhigkeit ſchwaͤ-
chen und ſie unvermoͤgend machen koͤnne, ſo anhaltend
wirkſam zu ſeyn, als es noͤthig iſt, wenn eine Reihe von
Schluͤſſen durchgedacht werden ſoll. Wenn ihm dieſe
Unterdruͤckung der Vernunft gelingen koͤnnte, ſo muͤßte
er freylich daſſelbige erfahren, was Perſonen von ſchwa-
chem Verſtande begegnet, die, ob ſie gleich mehrmalen
eine Rechnung nachgeſehen, und richtig befunden haben,
ſich doch noch wohl durch eine dreiſte Behauptung des
Gegentheils zweifelhaft machen laſſen, ob die Rechnung
auch wirklich richtig ſey? Aber dahin iſt es doch nicht
zu bringen, daß in jedem einzelnen Schluß ein anderer
Schlußſatz aus den Vorderſaͤtzen gezogen werde, als der
einzige richtige iſt, es ſey denn, daß zugleich in den
Jdeen oder in den Vorderſaͤtzen eine Veraͤnderung vor-
gehe. Dieſe ſubjektiviſche Nothwendigkeit in unſeren
Urtheilen iſt eine Nothwendigkeit von dem erſten
Rang, eine abſolute Nothwendigkeit; aber doch eine
ſo genannte neceſſitas contrarietatis, eine Nothwendig-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/553>, abgerufen am 24.11.2024.
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