und worinn hat sie ihren Grund? Wie weit und war- um sind sie in dieser Hinsicht von einer andern Natur, als die einzelnen Empfindungsurtheile?
Ueber die objektivische Nothwendigkeit der Sätze lässet sich nichts sagen, ehe man nicht die sub- jektivische, mit der sie von unserm Verstande gedacht werden, untersucht, und in uns die Natur der Gemein- sätze als Produkte der Denkkraft beobachtet, und ihre Beschaffenheiten bemerket hat. Nur daraus, und son- sten nirgends her kann es erkannt werden, was und wie viel wir an ihnen haben, wenn wir sie als Abbildungen und Vorstellungen von dem objektivischen ansehen, was außer dem Verstande ist. Die allgemeine obige Frage will ich folgendermaßen zergliedern.
Erstlich. Jst es nothwendig, daß der Aktus des Urtheilens erfolge, wenn die Vorstellungen ge- genwärtig sind, und wenn sie so gegenwärtig sind, als sie es in dem Augenblick sind, wenn wir urtheilen? Laß z. B. zwo Vorstellungen von zween geradelinigten Tri- angeln gegenwärtig seyn, in deren beiden zwey Seiten und der von diesen Seiten eingeschlossene Winkel schon als gleiche Größen erkannt sind. Was wird noch mehr erfordert, wenn ein Urtheil über das Verhältniß dieser Figuren, wenn der Gedanke, "daß diese beiden Trian- geln sich decken," entstehen soll? Erfolget denn das Urtheil nothwendig, wenn alle Befordernisse dazu, so ferne diese in den Jdeen liegen, vorhanden sind? Kann es nicht zurückgehalten werden? auch durch eine geflis- sentliche Anstrengung der Seele nicht? Wie weit ist es subjektivisch nothwendig, daß die Denkkraft einen Ver- hältnißgedanken hervorbringe?
Zweytens ist es nothwendig, und in wie weit und bey welchen Erfordernissen, daß das Urtheil, seiner Form nach, wenn es erfolget, so erfolge, wie es er- folget? Jst es nothwendig, daß in dem angeführten
Beyspiel
G g 4
der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
und worinn hat ſie ihren Grund? Wie weit und war- um ſind ſie in dieſer Hinſicht von einer andern Natur, als die einzelnen Empfindungsurtheile?
Ueber die objektiviſche Nothwendigkeit der Saͤtze laͤſſet ſich nichts ſagen, ehe man nicht die ſub- jektiviſche, mit der ſie von unſerm Verſtande gedacht werden, unterſucht, und in uns die Natur der Gemein- ſaͤtze als Produkte der Denkkraft beobachtet, und ihre Beſchaffenheiten bemerket hat. Nur daraus, und ſon- ſten nirgends her kann es erkannt werden, was und wie viel wir an ihnen haben, wenn wir ſie als Abbildungen und Vorſtellungen von dem objektiviſchen anſehen, was außer dem Verſtande iſt. Die allgemeine obige Frage will ich folgendermaßen zergliedern.
Erſtlich. Jſt es nothwendig, daß der Aktus des Urtheilens erfolge, wenn die Vorſtellungen ge- genwaͤrtig ſind, und wenn ſie ſo gegenwaͤrtig ſind, als ſie es in dem Augenblick ſind, wenn wir urtheilen? Laß z. B. zwo Vorſtellungen von zween geradelinigten Tri- angeln gegenwaͤrtig ſeyn, in deren beiden zwey Seiten und der von dieſen Seiten eingeſchloſſene Winkel ſchon als gleiche Groͤßen erkannt ſind. Was wird noch mehr erfordert, wenn ein Urtheil uͤber das Verhaͤltniß dieſer Figuren, wenn der Gedanke, „daß dieſe beiden Trian- geln ſich decken,‟ entſtehen ſoll? Erfolget denn das Urtheil nothwendig, wenn alle Beforderniſſe dazu, ſo ferne dieſe in den Jdeen liegen, vorhanden ſind? Kann es nicht zuruͤckgehalten werden? auch durch eine gefliſ- ſentliche Anſtrengung der Seele nicht? Wie weit iſt es ſubjektiviſch nothwendig, daß die Denkkraft einen Ver- haͤltnißgedanken hervorbringe?
Zweytens iſt es nothwendig, und in wie weit und bey welchen Erforderniſſen, daß das Urtheil, ſeiner Form nach, wenn es erfolget, ſo erfolge, wie es er- folget? Jſt es nothwendig, daß in dem angefuͤhrten
Beyſpiel
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der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
und worinn hat ſie ihren Grund? Wie weit und war-
um ſind ſie in dieſer Hinſicht von einer andern Natur,
als die einzelnen Empfindungsurtheile?
Ueber die objektiviſche Nothwendigkeit der
Saͤtze laͤſſet ſich nichts ſagen, ehe man nicht die ſub-
jektiviſche, mit der ſie von unſerm Verſtande gedacht
werden, unterſucht, und in uns die Natur der Gemein-
ſaͤtze als Produkte der Denkkraft beobachtet, und ihre
Beſchaffenheiten bemerket hat. Nur daraus, und ſon-
ſten nirgends her kann es erkannt werden, was und wie
viel wir an ihnen haben, wenn wir ſie als Abbildungen
und Vorſtellungen von dem objektiviſchen anſehen, was
außer dem Verſtande iſt. Die allgemeine obige Frage
will ich folgendermaßen zergliedern.
Erſtlich. Jſt es nothwendig, daß der Aktus
des Urtheilens erfolge, wenn die Vorſtellungen ge-
genwaͤrtig ſind, und wenn ſie ſo gegenwaͤrtig ſind, als
ſie es in dem Augenblick ſind, wenn wir urtheilen? Laß
z. B. zwo Vorſtellungen von zween geradelinigten Tri-
angeln gegenwaͤrtig ſeyn, in deren beiden zwey Seiten
und der von dieſen Seiten eingeſchloſſene Winkel ſchon
als gleiche Groͤßen erkannt ſind. Was wird noch mehr
erfordert, wenn ein Urtheil uͤber das Verhaͤltniß dieſer
Figuren, wenn der Gedanke, „daß dieſe beiden Trian-
geln ſich decken,‟ entſtehen ſoll? Erfolget denn das
Urtheil nothwendig, wenn alle Beforderniſſe dazu, ſo
ferne dieſe in den Jdeen liegen, vorhanden ſind? Kann
es nicht zuruͤckgehalten werden? auch durch eine gefliſ-
ſentliche Anſtrengung der Seele nicht? Wie weit iſt es
ſubjektiviſch nothwendig, daß die Denkkraft einen Ver-
haͤltnißgedanken hervorbringe?
Zweytens iſt es nothwendig, und in wie weit und
bey welchen Erforderniſſen, daß das Urtheil, ſeiner
Form nach, wenn es erfolget, ſo erfolge, wie es er-
folget? Jſt es nothwendig, daß in dem angefuͤhrten
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/531>, abgerufen am 25.11.2024.
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