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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VI. Versuch. Ueber den Unterschied
dern urtheilen. Also muß die Fertigkeit im Sehen, we-
nigstens in einer gewissen Hinsicht, einige Uebung er-
fordern.

Das Urtheilen ist eine Wirkung, die eine Thä-
tigkeit der Denkkraft voraussetzet, und diese Thätigkeit
erfodert, daß Vorstellungen vorhanden sind. Es kann
diese Thätigkeit zurück bleiben. Wie viele Jdeen gehen
nicht durch unsern Kopf, ohne daß wir über die Bezie-
hungen in ihnen, die sich uns darstellen würden, so bald
wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehö-
ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewisse neue
Gattungen von Vorstellungen unsre Urtheilskraft anzu-
wenden.

Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde
als durch Uebung erlernet angesehen werden. Es kann
seyn, und es ist wahrscheinlich, daß es so sey, daß die
urtheilende Thätigkeiten im Anfang nur als schwache
Bestrebungen in der Seele sind, die, wie andere,
vorher mehrmalen wiederholet werden müssen, ehe sie so
volle Wirkungen werden, wie sie es alsdenn schon sind,
wenn wir sie in uns gewahrnehmen. Es ist natürlich,
zu glauben, daß jede Art von Seelenthätigkeiten in ih-
ren ersten Anfängen in schwachen Versuchen auf eine sol-
che Art zu wirken, bestanden haben, die nur durch die
Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen
gewachsen sind. Allein hievon ist nicht die Rede, wenn
ins besonders auf die Entstehungsart der sinnlichen
Urtheile gesehen wird, und nicht überhaupt auf den Ak-
tus des Urtheilens, und dessen allmähligen Verstärkung
bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun-
ken vorher müssen angefacht werden, ehe seine Flamme
mächtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen,
aber wenn es nun so weit ist, so brennet und zündet es
seiner Natur nach, ohne solches erst aus Uebung zu er-

lernen.

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
dern urtheilen. Alſo muß die Fertigkeit im Sehen, we-
nigſtens in einer gewiſſen Hinſicht, einige Uebung er-
fordern.

Das Urtheilen iſt eine Wirkung, die eine Thaͤ-
tigkeit der Denkkraft vorausſetzet, und dieſe Thaͤtigkeit
erfodert, daß Vorſtellungen vorhanden ſind. Es kann
dieſe Thaͤtigkeit zuruͤck bleiben. Wie viele Jdeen gehen
nicht durch unſern Kopf, ohne daß wir uͤber die Bezie-
hungen in ihnen, die ſich uns darſtellen wuͤrden, ſo bald
wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehoͤ-
ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewiſſe neue
Gattungen von Vorſtellungen unſre Urtheilskraft anzu-
wenden.

Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde
als durch Uebung erlernet angeſehen werden. Es kann
ſeyn, und es iſt wahrſcheinlich, daß es ſo ſey, daß die
urtheilende Thaͤtigkeiten im Anfang nur als ſchwache
Beſtrebungen in der Seele ſind, die, wie andere,
vorher mehrmalen wiederholet werden muͤſſen, ehe ſie ſo
volle Wirkungen werden, wie ſie es alsdenn ſchon ſind,
wenn wir ſie in uns gewahrnehmen. Es iſt natuͤrlich,
zu glauben, daß jede Art von Seelenthaͤtigkeiten in ih-
ren erſten Anfaͤngen in ſchwachen Verſuchen auf eine ſol-
che Art zu wirken, beſtanden haben, die nur durch die
Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen
gewachſen ſind. Allein hievon iſt nicht die Rede, wenn
ins beſonders auf die Entſtehungsart der ſinnlichen
Urtheile geſehen wird, und nicht uͤberhaupt auf den Ak-
tus des Urtheilens, und deſſen allmaͤhligen Verſtaͤrkung
bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun-
ken vorher muͤſſen angefacht werden, ehe ſeine Flamme
maͤchtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen,
aber wenn es nun ſo weit iſt, ſo brennet und zuͤndet es
ſeiner Natur nach, ohne ſolches erſt aus Uebung zu er-

lernen.
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[456/0516] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied dern urtheilen. Alſo muß die Fertigkeit im Sehen, we- nigſtens in einer gewiſſen Hinſicht, einige Uebung er- fordern. Das Urtheilen iſt eine Wirkung, die eine Thaͤ- tigkeit der Denkkraft vorausſetzet, und dieſe Thaͤtigkeit erfodert, daß Vorſtellungen vorhanden ſind. Es kann dieſe Thaͤtigkeit zuruͤck bleiben. Wie viele Jdeen gehen nicht durch unſern Kopf, ohne daß wir uͤber die Bezie- hungen in ihnen, die ſich uns darſtellen wuͤrden, ſo bald wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehoͤ- ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewiſſe neue Gattungen von Vorſtellungen unſre Urtheilskraft anzu- wenden. Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde als durch Uebung erlernet angeſehen werden. Es kann ſeyn, und es iſt wahrſcheinlich, daß es ſo ſey, daß die urtheilende Thaͤtigkeiten im Anfang nur als ſchwache Beſtrebungen in der Seele ſind, die, wie andere, vorher mehrmalen wiederholet werden muͤſſen, ehe ſie ſo volle Wirkungen werden, wie ſie es alsdenn ſchon ſind, wenn wir ſie in uns gewahrnehmen. Es iſt natuͤrlich, zu glauben, daß jede Art von Seelenthaͤtigkeiten in ih- ren erſten Anfaͤngen in ſchwachen Verſuchen auf eine ſol- che Art zu wirken, beſtanden haben, die nur durch die Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen gewachſen ſind. Allein hievon iſt nicht die Rede, wenn ins beſonders auf die Entſtehungsart der ſinnlichen Urtheile geſehen wird, und nicht uͤberhaupt auf den Ak- tus des Urtheilens, und deſſen allmaͤhligen Verſtaͤrkung bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun- ken vorher muͤſſen angefacht werden, ehe ſeine Flamme maͤchtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen, aber wenn es nun ſo weit iſt, ſo brennet und zuͤndet es ſeiner Natur nach, ohne ſolches erſt aus Uebung zu er- lernen.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/516>, abgerufen am 25.11.2024.