eine vernünftige Einsicht uns überzeuget, ohnerachtet ihr Ausspruch dem Ausspruch der Sinne so sehr entge- gen ist?
Die Antwort auf diese Fragen kann kurz gegeben werden. Die Vernunft machet sich allgemeine Vor- stellungen und Begriffe, suchet die in diesen liegende Verhältnisse und Beziehungen der Dinge auf, und er- hält allgemeine Grundsätze. Diese Sätze sind noch- wendige Wahrheiten, das heißt, das Urtheil muß bey jenen allgemeinen Vorstellungen nothwendig so aus- fallen, wie es ist, vermöge der natürlichen Wir- kungsgesetze der Denkkraft. Da ist eine subjektivi- sche Nothwendigkeit in dem Urtheil, welche wir auf die Objekte außer uns übertragen, und darum ihren ob- jektivischen Verhältnissen eine objektivische Noth- wendigkeit zuschreiben. Die nothwendigen Wahrhei- ten erzwingen den Beyfall; und ziehen ihn auf sich hin, stärker, als die sinnlichen Vorstellungen andere entgegen- stehende Gedanken zu erregen suchen. Beides, die ver- nünftigen Urtheile sowohl als die sinnlichen sind Wir- kungen der Vorstellungskraft und der Denkkraft. Der Unterschied zwischen ihnen hänget zunächst von dem Un- terschied zwischen allgemeinen und sinnlichen Vor- stellungen ab. Aber dazu kommt noch eine andere Ver- schiedenheit, die darinn ihren Grund hat, weil bey jenen die Denkkraft nach solchen Gesetzen wirket, die nothwen- dig sind; bey diesen hingegen nur solche Regeln befolget, an die sie nicht so nothwendig gebunden ist.
Dieß würde die Antwort seyn, die man nach den Jdeen verschiedener unserer vorzüglichsten Philosophen zu geben hätte. Andere würden, nach den Gründen zu urtheilen, die sie für die Zuverläßigkeit der menschlichen Erkenntniß anzuführen pflegen, nicht so viel behaupten können. Aber sollte nicht, ich will nicht sagen, der scharfsinnige Steptiker, sondern auch der bedachtsame
Forscher
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
eine vernuͤnftige Einſicht uns uͤberzeuget, ohnerachtet ihr Ausſpruch dem Ausſpruch der Sinne ſo ſehr entge- gen iſt?
Die Antwort auf dieſe Fragen kann kurz gegeben werden. Die Vernunft machet ſich allgemeine Vor- ſtellungen und Begriffe, ſuchet die in dieſen liegende Verhaͤltniſſe und Beziehungen der Dinge auf, und er- haͤlt allgemeine Grundſaͤtze. Dieſe Saͤtze ſind noch- wendige Wahrheiten, das heißt, das Urtheil muß bey jenen allgemeinen Vorſtellungen nothwendig ſo aus- fallen, wie es iſt, vermoͤge der natuͤrlichen Wir- kungsgeſetze der Denkkraft. Da iſt eine ſubjektivi- ſche Nothwendigkeit in dem Urtheil, welche wir auf die Objekte außer uns uͤbertragen, und darum ihren ob- jektiviſchen Verhaͤltniſſen eine objektiviſche Noth- wendigkeit zuſchreiben. Die nothwendigen Wahrhei- ten erzwingen den Beyfall; und ziehen ihn auf ſich hin, ſtaͤrker, als die ſinnlichen Vorſtellungen andere entgegen- ſtehende Gedanken zu erregen ſuchen. Beides, die ver- nuͤnftigen Urtheile ſowohl als die ſinnlichen ſind Wir- kungen der Vorſtellungskraft und der Denkkraft. Der Unterſchied zwiſchen ihnen haͤnget zunaͤchſt von dem Un- terſchied zwiſchen allgemeinen und ſinnlichen Vor- ſtellungen ab. Aber dazu kommt noch eine andere Ver- ſchiedenheit, die darinn ihren Grund hat, weil bey jenen die Denkkraft nach ſolchen Geſetzen wirket, die nothwen- dig ſind; bey dieſen hingegen nur ſolche Regeln befolget, an die ſie nicht ſo nothwendig gebunden iſt.
Dieß wuͤrde die Antwort ſeyn, die man nach den Jdeen verſchiedener unſerer vorzuͤglichſten Philoſophen zu geben haͤtte. Andere wuͤrden, nach den Gruͤnden zu urtheilen, die ſie fuͤr die Zuverlaͤßigkeit der menſchlichen Erkenntniß anzufuͤhren pflegen, nicht ſo viel behaupten koͤnnen. Aber ſollte nicht, ich will nicht ſagen, der ſcharfſinnige Steptiker, ſondern auch der bedachtſame
Forſcher
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
eine vernuͤnftige Einſicht uns uͤberzeuget, ohnerachtet ihr
Ausſpruch dem Ausſpruch der Sinne ſo ſehr entge-
gen iſt?
Die Antwort auf dieſe Fragen kann kurz gegeben
werden. Die Vernunft machet ſich allgemeine Vor-
ſtellungen und Begriffe, ſuchet die in dieſen liegende
Verhaͤltniſſe und Beziehungen der Dinge auf, und er-
haͤlt allgemeine Grundſaͤtze. Dieſe Saͤtze ſind noch-
wendige Wahrheiten, das heißt, das Urtheil muß
bey jenen allgemeinen Vorſtellungen nothwendig ſo aus-
fallen, wie es iſt, vermoͤge der natuͤrlichen Wir-
kungsgeſetze der Denkkraft. Da iſt eine ſubjektivi-
ſche Nothwendigkeit in dem Urtheil, welche wir auf die
Objekte außer uns uͤbertragen, und darum ihren ob-
jektiviſchen Verhaͤltniſſen eine objektiviſche Noth-
wendigkeit zuſchreiben. Die nothwendigen Wahrhei-
ten erzwingen den Beyfall; und ziehen ihn auf ſich hin,
ſtaͤrker, als die ſinnlichen Vorſtellungen andere entgegen-
ſtehende Gedanken zu erregen ſuchen. Beides, die ver-
nuͤnftigen Urtheile ſowohl als die ſinnlichen ſind Wir-
kungen der Vorſtellungskraft und der Denkkraft. Der
Unterſchied zwiſchen ihnen haͤnget zunaͤchſt von dem Un-
terſchied zwiſchen allgemeinen und ſinnlichen Vor-
ſtellungen ab. Aber dazu kommt noch eine andere Ver-
ſchiedenheit, die darinn ihren Grund hat, weil bey jenen
die Denkkraft nach ſolchen Geſetzen wirket, die nothwen-
dig ſind; bey dieſen hingegen nur ſolche Regeln befolget,
an die ſie nicht ſo nothwendig gebunden iſt.
Dieß wuͤrde die Antwort ſeyn, die man nach den
Jdeen verſchiedener unſerer vorzuͤglichſten Philoſophen
zu geben haͤtte. Andere wuͤrden, nach den Gruͤnden zu
urtheilen, die ſie fuͤr die Zuverlaͤßigkeit der menſchlichen
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/511>, abgerufen am 24.11.2024.
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