Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen. leicht antworten. Warum hätte die Abstraktion von ei-nem größern Aktus der Empfindung nicht auch anfangs und unmittelbar aus der zwoten Jmpression des Objekts, in der größern Weite und unter dem kleinen Winkel, ge- nommen werden können, wenn der Gang der Denkkraft bey dem Gebrauch des Sinns darnach geleitet worden wäre? Vielleicht ist sie so gar bey dem Kinde das sei- ne Sinne alle hat, eben so geschwinde aus der einen als aus der andern abgesondert. Wir können die Folge der sich absondernden Gemeinbegriffe in dem sehenden Kinde doch nicht gerade zu nach derjenigen beurtheilen, in der sie bey dem Blindgewesenen entstanden sind. Auch bey diesen haben sich merkliche Verschiedenheiten in ihrem Sehenlernen gezeiget. Aber wenn auch zugegeben wird, daß das Bild der sichtlichen Größe zuerst von der Jm- pression unter einem größern Winkel in der Nähe, ab- strahiret sey, so ist doch dazu, daß eben dieses nachher mit der Jmpression aus der Entfernung verbunden wor- den ist, nichts mehr nöthig gewesen, als daß die letztere Jmpression mit der erstern verglichen, und dadurch die Vorstellung von der sichtlichen Größe verallgemeinert würde. Dieß ist aber keine Association der Vorstellung mit einer Jmpression vermittelst der andern. Die No- tion von einem Dreyeck mag zuerst aus den Vorstellun- gen von geradelinigten Dreyecken abstrahiret seyn; sie ward nachher allgemeiner gemacht, als auch krummlinig- te Figuren von drey Seiten verglichen worden. Kann man diese Operation sich so vorstellen, als wenn die No- tion von einem Dreyeck der Vorstellung von einem krummlinigten Dreyeck, nur mittelst der Jdee von dem geradelinigten Dreyeck anklebe, und die allgemeine Notion von dem Triangel, bey der Erblickung eines krummlinigten Triangels, nur dadurch erwecket werde, weil die Jdee vom geradelinigten Triangel dazwischen tritt, und sie erneuert? oder gar, daß diese letztere die allgemei- I. Band. F f
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. leicht antworten. Warum haͤtte die Abſtraktion von ei-nem groͤßern Aktus der Empfindung nicht auch anfangs und unmittelbar aus der zwoten Jmpreſſion des Objekts, in der groͤßern Weite und unter dem kleinen Winkel, ge- nommen werden koͤnnen, wenn der Gang der Denkkraft bey dem Gebrauch des Sinns darnach geleitet worden waͤre? Vielleicht iſt ſie ſo gar bey dem Kinde das ſei- ne Sinne alle hat, eben ſo geſchwinde aus der einen als aus der andern abgeſondert. Wir koͤnnen die Folge der ſich abſondernden Gemeinbegriffe in dem ſehenden Kinde doch nicht gerade zu nach derjenigen beurtheilen, in der ſie bey dem Blindgeweſenen entſtanden ſind. Auch bey dieſen haben ſich merkliche Verſchiedenheiten in ihrem Sehenlernen gezeiget. Aber wenn auch zugegeben wird, daß das Bild der ſichtlichen Groͤße zuerſt von der Jm- preſſion unter einem groͤßern Winkel in der Naͤhe, ab- ſtrahiret ſey, ſo iſt doch dazu, daß eben dieſes nachher mit der Jmpreſſion aus der Entfernung verbunden wor- den iſt, nichts mehr noͤthig geweſen, als daß die letztere Jmpreſſion mit der erſtern verglichen, und dadurch die Vorſtellung von der ſichtlichen Groͤße verallgemeinert wuͤrde. Dieß iſt aber keine Aſſociation der Vorſtellung mit einer Jmpreſſion vermittelſt der andern. Die No- tion von einem Dreyeck mag zuerſt aus den Vorſtellun- gen von geradelinigten Dreyecken abſtrahiret ſeyn; ſie ward nachher allgemeiner gemacht, als auch krummlinig- te Figuren von drey Seiten verglichen worden. Kann man dieſe Operation ſich ſo vorſtellen, als wenn die No- tion von einem Dreyeck der Vorſtellung von einem krummlinigten Dreyeck, nur mittelſt der Jdee von dem geradelinigten Dreyeck anklebe, und die allgemeine Notion von dem Triangel, bey der Erblickung eines krummlinigten Triangels, nur dadurch erwecket werde, weil die Jdee vom geradelinigten Triangel dazwiſchen tritt, und ſie erneuert? oder gar, daß dieſe letztere die allgemei- I. Band. F f
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
leicht antworten. Warum haͤtte die Abſtraktion von ei-
nem groͤßern Aktus der Empfindung nicht auch anfangs
und unmittelbar aus der zwoten Jmpreſſion des Objekts,
in der groͤßern Weite und unter dem kleinen Winkel, ge-
nommen werden koͤnnen, wenn der Gang der Denkkraft
bey dem Gebrauch des Sinns darnach geleitet worden
waͤre? Vielleicht iſt ſie ſo gar bey dem Kinde das ſei-
ne Sinne alle hat, eben ſo geſchwinde aus der einen als
aus der andern abgeſondert. Wir koͤnnen die Folge der
ſich abſondernden Gemeinbegriffe in dem ſehenden Kinde
doch nicht gerade zu nach derjenigen beurtheilen, in der
ſie bey dem Blindgeweſenen entſtanden ſind. Auch bey
dieſen haben ſich merkliche Verſchiedenheiten in ihrem
Sehenlernen gezeiget. Aber wenn auch zugegeben wird,
daß das Bild der ſichtlichen Groͤße zuerſt von der Jm-
preſſion unter einem groͤßern Winkel in der Naͤhe, ab-
ſtrahiret ſey, ſo iſt doch dazu, daß eben dieſes nachher
mit der Jmpreſſion aus der Entfernung verbunden wor-
den iſt, nichts mehr noͤthig geweſen, als daß die letztere
Jmpreſſion mit der erſtern verglichen, und dadurch die
Vorſtellung von der ſichtlichen Groͤße verallgemeinert
wuͤrde. Dieß iſt aber keine Aſſociation der Vorſtellung
mit einer Jmpreſſion vermittelſt der andern. Die No-
tion von einem Dreyeck mag zuerſt aus den Vorſtellun-
gen von geradelinigten Dreyecken abſtrahiret ſeyn; ſie
ward nachher allgemeiner gemacht, als auch krummlinig-
te Figuren von drey Seiten verglichen worden. Kann
man dieſe Operation ſich ſo vorſtellen, als wenn die No-
tion von einem Dreyeck der Vorſtellung von einem
krummlinigten Dreyeck, nur mittelſt der Jdee von dem
geradelinigten Dreyeck anklebe, und die allgemeine
Notion von dem Triangel, bey der Erblickung eines
krummlinigten Triangels, nur dadurch erwecket werde,
weil die Jdee vom geradelinigten Triangel dazwiſchen
tritt, und ſie erneuert? oder gar, daß dieſe letztere die
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