ändert, das auf sie fällt. Jhre Farben erscheinen an- ders schattirt bey dem hellen Mittagslicht als des Mor- gens und des Abends, wenn das Licht schwächer ist; aber wer achtet viel auf diesen Unterschied der Jmpressio- nen, wenn man sich nicht mit Fleiß darauf leget, die Malerperspektive zu studieren? Es geht uns dabey wie bey dem geschwinden Ueberlesen einer bekannten Schrift, in der wir manche Schreib- und Druckfehler übersehen. Wir begnügen uns nur so viel von den gegenwärtigen Eindrücken aufs Auge zu bemerken, als erfodert wird, gewisse Jdeen zu erwecken; und dann vergleichen, über- legen und urtheilen wir nach diesen Jdeen ohne besondere Rücksicht auf die Jmpressionen.
So glauben wir, die Solidität in den Körpern zu sehen. Was wir hier sehen, und wirklich empfinden, bestehet in einer gewissen Lage des Lichts und der Schat- ten, und mit dieser verbinden wir die Jdee von der Solidität, die aus dem Gefühl her ist. Aber wenn wir genau auf unsern Gesichtseindruck Acht geben, so nehmen wirs auch bald gewahr, daß es jene fremde Ge- fühlsidee sey, mit der wir uns am meisten beschäftigen, und daß wir in der That nichts mehr sehen, als was auch wirklich in der gegenwärtigen Jmpression enthalten ist, nemlich, ein Merkmal der Solidität, oder die sicht- liche Solidität, mit der wir den allgemeinen Begrif von der Solidität verbunden haben. So bald man die- sen letztern Begrif für sich allein lebhaft zu machen sucht, ihn entwickelt und Folgerungen daraus ziehet, so offen- baret es sich sogleich, daß es das nicht sey, was wir wirklich durch die Augen empfinden.
Es ist wohl möglich, daß die Jmpression von einem Objekt unter einem größern Sehewinkel in der Nähe, und die Jmpression von eben derselben unter einem klei- nern Winkel in einem größern Abstand, nicht unterschie- den werde; öfters nicht aus Mangel der Aufmerksam-
keit,
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
aͤndert, das auf ſie faͤllt. Jhre Farben erſcheinen an- ders ſchattirt bey dem hellen Mittagslicht als des Mor- gens und des Abends, wenn das Licht ſchwaͤcher iſt; aber wer achtet viel auf dieſen Unterſchied der Jmpreſſio- nen, wenn man ſich nicht mit Fleiß darauf leget, die Malerperſpektive zu ſtudieren? Es geht uns dabey wie bey dem geſchwinden Ueberleſen einer bekannten Schrift, in der wir manche Schreib- und Druckfehler uͤberſehen. Wir begnuͤgen uns nur ſo viel von den gegenwaͤrtigen Eindruͤcken aufs Auge zu bemerken, als erfodert wird, gewiſſe Jdeen zu erwecken; und dann vergleichen, uͤber- legen und urtheilen wir nach dieſen Jdeen ohne beſondere Ruͤckſicht auf die Jmpreſſionen.
So glauben wir, die Soliditaͤt in den Koͤrpern zu ſehen. Was wir hier ſehen, und wirklich empfinden, beſtehet in einer gewiſſen Lage des Lichts und der Schat- ten, und mit dieſer verbinden wir die Jdee von der Soliditaͤt, die aus dem Gefuͤhl her iſt. Aber wenn wir genau auf unſern Geſichtseindruck Acht geben, ſo nehmen wirs auch bald gewahr, daß es jene fremde Ge- fuͤhlsidee ſey, mit der wir uns am meiſten beſchaͤftigen, und daß wir in der That nichts mehr ſehen, als was auch wirklich in der gegenwaͤrtigen Jmpreſſion enthalten iſt, nemlich, ein Merkmal der Soliditaͤt, oder die ſicht- liche Soliditaͤt, mit der wir den allgemeinen Begrif von der Soliditaͤt verbunden haben. So bald man die- ſen letztern Begrif fuͤr ſich allein lebhaft zu machen ſucht, ihn entwickelt und Folgerungen daraus ziehet, ſo offen- baret es ſich ſogleich, daß es das nicht ſey, was wir wirklich durch die Augen empfinden.
Es iſt wohl moͤglich, daß die Jmpreſſion von einem Objekt unter einem groͤßern Sehewinkel in der Naͤhe, und die Jmpreſſion von eben derſelben unter einem klei- nern Winkel in einem groͤßern Abſtand, nicht unterſchie- den werde; oͤfters nicht aus Mangel der Aufmerkſam-
keit,
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
aͤndert, das auf ſie faͤllt. Jhre Farben erſcheinen an-
ders ſchattirt bey dem hellen Mittagslicht als des Mor-
gens und des Abends, wenn das Licht ſchwaͤcher iſt;
aber wer achtet viel auf dieſen Unterſchied der Jmpreſſio-
nen, wenn man ſich nicht mit Fleiß darauf leget, die
Malerperſpektive zu ſtudieren? Es geht uns dabey wie
bey dem geſchwinden Ueberleſen einer bekannten Schrift,
in der wir manche Schreib- und Druckfehler uͤberſehen.
Wir begnuͤgen uns nur ſo viel von den gegenwaͤrtigen
Eindruͤcken aufs Auge zu bemerken, als erfodert wird,
gewiſſe Jdeen zu erwecken; und dann vergleichen, uͤber-
legen und urtheilen wir nach dieſen Jdeen ohne beſondere
Ruͤckſicht auf die Jmpreſſionen.
So glauben wir, die Soliditaͤt in den Koͤrpern zu
ſehen. Was wir hier ſehen, und wirklich empfinden,
beſtehet in einer gewiſſen Lage des Lichts und der Schat-
ten, und mit dieſer verbinden wir die Jdee von der
Soliditaͤt, die aus dem Gefuͤhl her iſt. Aber wenn
wir genau auf unſern Geſichtseindruck Acht geben, ſo
nehmen wirs auch bald gewahr, daß es jene fremde Ge-
fuͤhlsidee ſey, mit der wir uns am meiſten beſchaͤftigen,
und daß wir in der That nichts mehr ſehen, als was
auch wirklich in der gegenwaͤrtigen Jmpreſſion enthalten
iſt, nemlich, ein Merkmal der Soliditaͤt, oder die ſicht-
liche Soliditaͤt, mit der wir den allgemeinen Begrif
von der Soliditaͤt verbunden haben. So bald man die-
ſen letztern Begrif fuͤr ſich allein lebhaft zu machen ſucht,
ihn entwickelt und Folgerungen daraus ziehet, ſo offen-
baret es ſich ſogleich, daß es das nicht ſey, was wir
wirklich durch die Augen empfinden.
Es iſt wohl moͤglich, daß die Jmpreſſion von einem
Objekt unter einem groͤßern Sehewinkel in der Naͤhe,
und die Jmpreſſion von eben derſelben unter einem klei-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 444. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/504>, abgerufen am 22.11.2024.
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